Chasseron-Môtiers

Vom Chasseron nach Môtiers

25. Juli 2019

Es soll heute noch heisser werden als gestern, so sind wir um neun Uhr bereits abmarschbereit. Ein letzter Blick nochmals über die senkrechte Fluh hinaus Richtung Norden übers Val de Travers, das wir heute und morgen durchwandern wollen. Kahl und steinig ist hier der Rücken des Chasserons, aber hier fühlen sich die Gämsen wohl. Von Hedy habe ich das Foto bekommen. Ein noch angenehmes Lüftchen begleitet uns zu Beginn auf den kuhfladengedüngten Weiden über die Höhe auf dem Pfad ostwärts. Zuerst geht’s entlang einer markanten Bruchsteinmauer und heute zum Glück nur abwärts. Verschiedene Arten von Glocken- und andern Blumen und meterhoher gelber Enzian stehen Parade am Weg. Hier wachsen auch die Kräuter für den Absinth aus dem Val de Travers. Nach einer guten Stunde nimmt uns ein Waldweg in seinen angenehmen Schatten auf. Hier ist die Sterndolde zu Hause und auch Türkenbund  wird gesichtet. Sogar einen Lieblingsplatz der rotbraunen Ständelwurz entdecke ich an einem Strassenbord. Diese Orchidee macht nicht viel Aufhebens von ihrer Anwesenheit und auf meinem Schnappschuss im Vorbeigehen ist sie auch kaum zu entdecken.

Bei einer Trinkpause, wo ein Wässerchen flach und gemütlich durch sein Bachbettt dahinmurmelt, kommen wir mit einem Ehepaar ins Gespräch, das von La Brévine aufgebrochen ist und unsere Tour in der entgegengesetzten Richtung über den Chasseron macht. Sie haben im Hotel zum weissen Wolf, unserer übernächsten Unterkunft übernachtet und sie schwärmen uns von den Grillkünsten des dortigen Gastwirts vor und empfehlen uns wärmstens sein Entrecôte double.

Das hilft uns nun gerade unsere heutigen Aktivitäten zu ordnen. Für Nimmermüde wäre ein Vorschlag zum Besuch der  Areuse-Quelle und/oder ein feines Nachtessen auswärts, wobei uns Frau Ilona Bodmer das Restaurant Chapeau Napoléon hoch über Fleurier für ein gutes Fleisch empfohlen hat. Bei ihr in Môtier sind wir im B&B angemeldet. Sie würde uns auch gerne bekochen, sofern wir ihr dies bis zum Mittag melden würden. Da wir für den Napoleonhut Zug und Taxi nehmen müssten, jedenfalls jene, die nicht über zweihundert ziemlich steile Höhenmeter bei dieser Hitze heute noch zum Dessert bewältigen wollen, verschieben wir doch das Fleisch gerne auf morgen und bestellen bei Ilona ihre gute Hausmannskost und sind darauf gespannt, was es gibt.

Wir sind nun beim Punkt 1131 angekommen, wo am Wegweiser Pouetta Raisse angeschrieben ist und von hier weist er in einer Stunde 10 durch die Schluchten nach Môtiers. Chasseron – Poëta Raisse – Môtiers steht auf unserem Wanderprogramm und Schluchten und eine Grotte hat uns Esti für heute versprochen.

Poëta bedeutet im Dialekt hässlich und der Name stammt noch aus der Zeit, bevor Weg und Steg durch die bizarren Felsformationen dieser Schluchten führte. Teils sind schmale Stege eng an die Felswand gebaut und daran befestigte Ketten vermitteln Vertrauen. Treppen und Stufen müssen überwunden werden, aber ich bin begeistert von dieser romantischen Schlucht, welche wohl das unscheinbare Wässerchen auf ihrem Grund über Jahrtausende herausgenagt und gefressen hat.

Man drängt sich zusammen mit dem Rinnsal manchmal zwischen hohen Felswänden hindurch, immer weiter hinunter. Manchmal ist vom Wasser überhaupt nichts mehr zu sehen. Vielleicht frisst sich dieser Rest, den die Hitze noch nicht verdunstet hat, irgendwo unterirdisch weiter durchs Gestein. Plötzlich ist wieder etwas wie ein Bach da und füllt kleine Mulden zu Tümpeln aus und fällt dann über den Rand eines Felsens wieder eine Stufe tiefer hinunter. Endlich öffnet sich die Klamm wieder und ein schöner Picknicktisch lädt uns zu einer verdienten Rast ein.

Nur Esti hat keine Musse, sie steigt ins Badkleid. Der Ruf des letzten glasklaren Tümpels zieht sie förmlich über die letzten Stufen zurück, wo sie sich japsend im eiskalten Wasser Abkühlung verschafft. Die überlaufende Badewanne löst gerade eine Flutwelle über den Rand aus und der abgetrocknete Felsen darunter darf heute gerade nochmals duschen.

Wir folgen dem Bachbett noch ein Weilchen, aber alles ist trocken. Esti hat wohl die letzte Gelegenheit für eine Erfrischung genutzt.

Eigentlich sind wir kurz vor Môtier, unserem Ziel angelangt, aber Esti hat uns ja noch eine Grotte versprochen. Ob es eine Einsiedelei ist oder was mit Jean Jacques Rousseau war, habe ich nicht mitgekriegt, aber warum wir diesen kleinen Abstecher noch machen, ist mir nach einem letzten Erklimmen hinauf zur Höhle klar. Eine gewaltige, mit Moos überzogene Sinter-Kaskade fällt von weit oben wie ein Vorhang herunter und endet direkt neben dem Höhleneingang. Um diese Rutschbahnen habe ich unterwegs manch kleines Wasserfälleli beneidet, aber hier sieht man kein Wassertröpfchen, das zu beneiden wäre. Es stimmt einen fast traurig, ein so wunderschöner Wasserfall ohne das dazugehörige Wasser!

Unten im Dorf empfängt uns die brütende Nachmittagshitze und am Weg plätschern blumengeschmückte Dorfbrunnen, wo wir gierig unsere ausgedörrten Kehlen wieder benetzen und von dem köstlichen Wasser auch endlich die leergetrunkenen Flaschen wieder auffüllen können.

Im à Côté mitten im Dorf werden wir herzlich von Ilona und ihrem Mann empfangen. Die beiden betreiben seit ein paar Jahren dieses kleine Bijou hier. Aus ihrem reichen Leben als Theater- und Zirkusleute haben sie sich die Rosinen in ihr Rentnerdasein gerettet und in ihrem sanft renovierten, 200-jährigen Haus finden Ausstellungen und Konzerte statt. Sie lieben die Begegnung mit Menschen und man fühlt sich in ihrem kleinen Café sofort sehr wohl. Ilona spricht schweizerdeutsch und während sie uns die Gästekarten ausfüllt, welche uns freie Fahrt mit dem öV im ganzen Kanton Neuenburg gewähren und ausserdem über dreissig Gratiseintritte in Kulturstätten und Mueseen enthalten, erfahren wir bereits viel Interessantes über sie, den Ort hier und das Val de Travers an sich. Gerade so, dass ich das Gefühl habe, das Absinth-Museum gleich um die Ecke müsse ich, als notorischer Museumsbanause, unbedingt gesehen haben. Ich schliesse mich diesmal also Klaus, Herbert, Knud und Lykke-Lise lieber an, als den nimmermüden Priska, Esti, Hedi und Maria, welche tatsächlich mit dem Zug nach Fleurier fahren und dann den Chapeau de Napoléon noch erklimmen. Sie schwärmen uns dafür am Abend von einem speziellen Coupe mit Absinth vor.

Ilona hat in der Zwischenzeit für uns gekocht und gespannt wartet sie auf unser Echo. Hochwillkommen ist der erste Gang – eine kalte Suppe. Herrlich! Warum immer Gurken? Sie verrät uns, dass sie Zucchetti genommen hat, zusammen mit Peterli und anderen Gewürzen und das, was es so fein sämig macht, sei ein Kiri. Scheint mir unbedingt nachahmenswert.

Anschliessend werden grosse Schüsseln aufgetragen aus denen wir uns selber mit Müscheli-Teigwaren bedienen können, Ebenso zwei weitere Schüsseln mit einem währschaften Curry aus Peperoni-Gemüse und Pouletfleisch an einer Kokos-Sauce. Eine Handvoll Erdnüsse verleihen dem Ganzen eine besondere Note. Mir schmeckt es so gut, dass ich wieder viel zu viel gegessen habe. Soviel, dass ich gerade ein ‚Verrysserli‘ brauche. Wäre vielleicht ein Absinth dazu geeignet?

Der Chef klärt mich auf, dass man einen Absinth sowohl als Apéritiv, wie auch als Digestiv nehmen könnte. Also will ich probieren und er bringt mir ein Glas und dazu eine kleine Karaffe mit eiskaltem Wasser, womit man den Absinth verdünnen kann oder muss. Er wird dann ganz milchig weiss. Ich möchte aber zuerst lieber so pur probieren. Schelmisch beobachtet er mich dabei und ich sehe ihm die Enttäuschung förmlich an, weil ich nicht zu husten und japsen beginne. Ich finde es gar nicht so schlimm, obwohl es recht wärmend die Kehle hinunter rinnt. Er schmeckt ähnlich wie der Burgermeisterli, den ich noch gerne mag, wenn ich zu viel gegessen habe. Also ich bleibe lieber beim Unverdünnten. Ich habe damit noch andere neugierig gemacht und die Flasche wird inspiziert. Der hat ja 53 Volumenprozent! Der Chef bringt noch ein Glas, den er aber verdünnt, so wie er sein soll, damit alle probieren können, die wollen und ich bin froh, dass ich den meinen nicht gepantscht habe.

Schlafen kann ich heute jedenfalls gut. Ich habe ein kleines Zimmer für mich allein und kann die ganze frische Nachtluft durchs sperrangeloffene Fenster auf mich wirken lassen. Wir haben mit unserer Gruppe alle Gästebetten belegt. Zwei Doppelzimmer haben Knud und Lykke-Lise und Prisca und Hedy bekommen. Die drei kleinen Zimmer mit den etwas schmäleren Doppelbetten eignen sich bei dieser Hitze wirklich besser als Einzelzimmer. Dafür hilft jeweils eine andere Frau im Dorf mit ihrem B&B aus und Esti und Maria werden zum Schlafen bei Hermine untergebracht.

Damit wir morgen mit dem 8.39-Zug nach Couvet fahren können, wären wir froh, wenn wir bereits um halb acht Uhr frühstücken könnten. Aber morgen sind unsere Gastwirte engagiert. Sie müssen am Vormittag den russischen Künstler, dessen Gemälde hier in der Gaststube hängt, in Genf abholen. Doch auch für solche Notfälle funktioniert ihr weitgreifendes Netzwerk bestens und der Stellvertreter, der eben seine Anweisungen für morgen entgegennimmt, erklärt sich spontan bereit, auch schon um halb acht für uns bereit zu sein.