Sommerwanderung 1996

Freitag, 12. Juli 1996

Die Vorfreude beginnt beim Rucksackpacken. Bin ich eigentlich verrückt, ein solches Monstrum mit diesen tausend Riemen zu kaufen? Aber wichtig war mir ein meinem Rücken angepasstes, mit einem Hüftgurt ausgestatteten Modell, welches nicht alles Gewicht auf den Schultern ruhen lässt. Dafür könnte ich wahrscheinlich spielend hundert Kilos darin verstauen. Also werden die Seitenriemen ja nicht zu grosszügig eingestellt und Wäsche, Regenschutz und sonst alles Mögliche zuerst auf die Diätwaage gelegt. Eingepackt wird immer nur das leichtere Exemplar.
Turnschuhe oder nur Gerätschläppli? – Nein nur Schläppli! Aber in der Kummenalp hatte ich letztes Jahr so kalte Füsse – also doch Turnschuhe! Die Neuen sind ja wirklich leicht…. und Platz hat’s ja im Rucksack !! Der Trainer passt gerade noch schön ins Deckelfach. Ich möchte in der SAC-Hütte nicht frieren.
Am Bahnhof lasse ich mir bei der Gepäckabfertigung verschämt meine Last wägen. Mitsamt Esswaren gerade dreizehn Kilo. Und dies eine Woche lang und freiwillig!
Auf dem Perron spricht mich ein Herr und zwei Damen an. Aufgrund meines Bagages zu schliessen, könnte ich zu der wandernden Volkstanzgruppe gehören, vermutet Fritz Zinniker aus Kölliken folgerichtig. (Wie sich später herausstellt, ist er in Hägglingen aufgewachsen, hat aber Jahrgang 32 und ist nicht mehr mit Walti zur Schule gegangen.) Seine Frau mit Schwester kommen nur zum Winken. Für die Beiden steht heute ein Stadtbummel in Basel auf dem Programm.
Bald werden auch Karl, Monique, Lotti, Hans und Annigna, Dieter und Esther stürmisch begrüsst. Wohlbepackt lassen wir uns per Zug erwartungsvoll Richtung Lötschberg Brig entführen.
In Bern werden Bea samt Kumpel Rita und Uschi neugierig, aber herzlich in unserer Clique willkommen geheissen. Der Empfang hingegen, der uns in Kalpetran geboten wird, übertrifft alles: Vreni und Margrit kommen uns fahnenschwenkend entgegen. Die Beiden haben in Grächen diese Woche ihr Höhentraining absolviert. Nun noch per Seilbahn hinauf nach Embd, wo uns Doris schon ungeduldig erwartet. Sie erledigt gerade für alle das Administrative mit der Seilbahndirektion. Sie ist schon gestern angereist und mit ihr zusammen ist nun unsere Gruppe fast vollzählig. Nur Hans Mory wird erst morgen zu uns stossen.

Erwartungsfroh und aufgestellt

Zuerst ist hier Kantonnementsbezug in der Turnhalle. Fein sauber, 16 Matratzen. Und zum Zudecken? Schnell werden noch 16 Wolldecken organisiert. Dusche und WC Anlagen stehen zur Verfügung. Nützen wir noch, solange man kann!
Da der Nachmittag noch jung ist, machen wir uns, da ohne Rucksack, frohen Mutes auf den Weg, um Törbel einen Besuch abzustatten.
Nach einer längeren Schlechtwetterperiode hat sich gottseidank seit gestern der Sommer zurückgemeldet. Auf unserem Spaziergang begleitet uns das Zirpen der Grillen im hohen Gras und purpurrot leuchtende Kartäuser Nelken und von Schmetterlingen umtanzte Skabiosa grüssen am Wegrand.
Die Bauern sind am Heuen und sie führen uns gerade wieder einmal vor Augen, wie sauer sie ihr Brot verdienen müssen. Am steilen Hang wird das getrocknete Gras auf eine grosse Blache geladen und dieses Fuder dann das Bord hinunter geschliddert und gezerrt und vor dem Schober ausgekippt. Oder man trägt so ein ein-Mann-hohes Fuder einfach auf den Schultern hinunter.
Bevor wir das schmucke Dörfchen mit seinen alten, steinbedeckten Holzhäusern und der nicht dazupassenden Kirche unsicher machen können, wird der Treffpunkt für die Heimkehr um Viertel nach vier bei der Wegbiegung abgemacht. Da noch (fast) alle beisammen sind, gibt’s eine gute Gruppenfoto im nassen Gras. Der Bauer hat eben den Stein im Gräblein so gesetzt, dass gerade die vordere Wiese mit Wasser beschert wird. Dreht er später den Stein, fliesst dann das Wasser ein Gräblein weiter zur hinteren Wiese. Die Sightseeing-Tour dauert nicht sehr lange und weil jeder Weg und jedes Gässlein steil und steiler ist, lässt man sich bald erschöpft im Restaurant bei einem Drink oder Eiscornet nieder.
Obwohl die Strasse auf der Westseite wirklich nur eine Kurve macht, schafft es ein Teil an dieser Abzweigung zu warten und ein anderer Teil findet halt auch eine Abzweigung zum Warten. Diese Hälfte, bei der ich gelandet bin, stiefelt nun Richtung Höhenweg ‘heimzu’.
Zuerst vorbei an der Mühle, wo man den grossen Mühlstein erspähen kann. Aussen führt ein ausgehöhlter Baumstamm das Wasser aufs Wasserrad. Nur im Moment ist ein grosser, eiserner Schieber so gestellt, dass dieses an der Mühle vorbei in einen Kanal geleitet wird. Wahrscheinlich wird damit jetzt gerade die Wiese vom Fototermin bewässert.
Keuchend erklimmen wir weitere Höhen und sehen bald weit unter uns die andere Hälfte unserer Gruppe auf jenem Weg heimkehren, auf welchem wir gekommen sind. Nach der Karte sollte hier bald der Pfad abzweigen, welcher uns durch die Felsen führen sollte. Aber ein Ehepaar warnt uns davor, er sei zu gefährlich und nicht mehr begehbar. Um nach Embd zu gelangen, müsse man schon fast über die Moosalp. So steigen wir halt weiter bergan über Alpweiden und durch Brennesselgestrüpp und wilden Spinat. Wir atmen den Duft von Ziegenställen ein, überklettern Weidedrähte, rennen mit mehr oder weniger Glück unter laufenden Wassersprengern hindurch, wehren heranspringende Schwarznasenschafe ab, zwängen uns durchs Haselgebüsch am rauschenden Bergbach und landen bezeichnenderweise beim Chalet Holdrio wieder einigermassen auf einem begehbaren Pfad, der uns zurück nach Embd führt und wir finden uns rechtzeitig zum bestellten Nachtessen im Restaurant ein.
Aber nicht mal richtig essen kann ich. Beim Hinaufhieven des Rucksacks im Zug, habe ich heute meine Hand in den tausend Riemen verheddert und mir glaub eine kleine Zerrung im Handgelenk zugezogen. So esse ich halt die vorher zurechtgeschnittenen Schnitzelstreifchen mit der rechten Hand!
Nach dem (individuellen) Baileys-Glacen-Dessert, werden auf dem Balkon noch versicherungstechnische und auch andere Probleme erörtert, aber ich möchte gerne noch einen Blick in die Kirche tun. Sie ist noch offen und verschämt zünde ich eine kleine Kerze an, verbunden mit guten Gedanken, auch zum Gelingen unserer Wanderung.
Wie sehr verschieden doch die Friedhöfe allerorten sind! Hier auf diesem kargen Boden fallen einem nicht zuerst Blumen auf, sondern diese grosse Einheit oder gar Unpersönlichkeit. Jedes Grab hat das gleiche schlichte Holzkreuz mit dem gleichen Heiland, der überall auf die gleiche Seite schaut. Sogar die Namen sind viele gleich: Schaller, Fux und Bumann.
Wer vor dem Nachtessen nicht geduscht hat, ist selber schuld, jetzt ist abgeschlossen. Dafür rauscht die Ventilation wie ein Wasserfall. Ausserdem ist in einem angrenzenden Saal des Mehrzweckgebäudes eine Gemeindeversammlung in Gang und mich wundert nur, wie dies funktioniert, wenn immer alle durcheinanderreden. Männer, wohlverstanden! Während ich jede Viertelstunde mitzähle, wie sie lautstark vom nahen Kirchturm verkündet wird, plange ich, bis endlich Morgen wird. Eine Wolldecke ist mir eindeutig zuwenig und ich friere, getraue mich aber nicht, im Rucksack nach wärmerem Zeug zu nuschen, um wenigstens jene nicht zu stören, welche schlafen können.

Samstag, 13. Juli

Gottlob ist schon um halb sieben Uhr Morgenessen und bald schnallen wir erwartungsvoll unsere Rückenpackungen. Alles dabei? Auch die Socken? Aber die Pantoffeln, die Hans noch gefunden hat, will niemand von uns. So werden sie in der Talstation des Badewannen-Heulifts, der uns nach Schalb tragen wird, deponiert. Bald kann man, immer zu viert, aus luftiger Höhe auf die vielen schönen Steindächer von Embd hinunterblicken.

Die Kalberbahn ob Kalpetran
Gute Fahrt und viel Glück

Und bitte bei der Ankunft nicht hinauslehnen! Jetzt sollten die Wanderstäbe wieder in Aktion treten, aber oh weh, wie tut mir mein Handgelenk so weh! In der Nacht ist es geschwollen und Annigna gibt mir eine elastische Binde, damit’s ein bisschen mehr Halt gibt. Jetzt sieht’s natürlich ganz gefährlich aus und beim nächsten Halt muss ich unbedingt entsprechende Salbe einreiben und für heute schone ich meine Linke.
Wie letztes Jahr ist Monique auch heuer bereit, den liebgewordenen Brauch, am Morgen beim ersten Halt jeweils eine kurze, heiter-besinnliche Geschichte vorzulesen, weiterzuführen. Sich kurz Gedanken zu machen eben. Wie zum Beispiel heute zu einem Gedanken über einen Gedanken. Einem kopflastigen Gedanken, der ausgerutscht ist und zu einem Herzensgedanken geworden ist.
Welch wunderbare Gelegenheit, sich beim Wandern Gedanken über Gott und die Welt zu machen.

Der Alphüttenbesitzer als Gastwirt

Keuchend und prustend erreiche ich (halt eben nicht mit Links) eine Alp, wo Rast gehalten wird. Karl lockt uns zur oberen Hütte, dort habe es Tisch und Bänke, ganz neue. Diejenigen, die sich’s schon so schön bequem gemacht haben, wollen nicht nochmals aufstehen und so sind wir etwa sechs, die komfortabler verschnaufen möchten. Da öffnet sich die Tür und der ‘Senn’ beruhigt unser Gewissen. Diese Bänkli sind für müde Wanderer gedacht! Darf ich euch einen Kaffee bringen? Wie viele seid ihr? Und schon stehen Tassen, ein Isolierkrug mit heissem Wasser, Nescafé, Teebeutel und sogar eine Flasche Klarer auf dem Tisch! Wohl bekomm’s! Karl revidiert seine Einstellung den Wallisern gegenüber augenblicklich. Stolz wird uns die ganz wohnlich hergerichtete Hütte gezeigt. Meist übers Wochenende wurde hier in letzter Zeit gebaut und gezimmert.

Wir lassen uns verwöhnen

„Eine wandernde Volkstanzgruppe aus Basel bedankt sich für die Aufmunterung für die noch vor uns liegenden 700 Meter Aufstieg“ schreibt Lotti ins Hüttenbuch. Margrit trifft fast der Schlag, sie hat ja jetzt schon genug und japst nur so nach Luft. Aber nicht mal das schnell durchgestrichene zweite Null hilft jetzt mehr etwas. Der weitere Aufstieg muss unvermeidlich unter die Füsse genommen werden. Vorbei geht’s an Hängen mit silbrigglänzendem Weidengebüsch, durchsetzt mit blühenden Alpenrosen. Wie höhnisches Lachen klingt vom Felsen herüber das Blöken unzähliger Walliser Schwarznasenschafe mit ihren lustigen schwarzen Flecken an den Beinen, die wie Knieschoner aussehen. Und immer noch steigt der Weg unerbittlich bergan. Zum Glück ist der Himmel über die Mittagszeit etwas bedeckt, damit uns die Hitze nicht gar so zusetzen muss. Aber endlich ist der Sattel erklommen und die Sicht weitet sich ins Turtmanntal. So steil wie’s hinaufging, so steil geht’s nun wieder hinunter Richtung Meiden Gruben. Der Abstieg macht mir weniger zu schaffen und ich bin diesmal nicht ganz zuhinterst. Die Sonne kommt wieder hinter den Wolken hervor und begleitet uns mit zunehmender Hitze weiter den Hang hinunter. Weiter durch einen lichten Wald, dem durch die Glut ein würziger Harzduft entströmt.
Was meinen Füssen hingegen entströmen wird, wenn ich endlich aus diesen Schuhen herauskommen werde? Heissgesotten und ein Gefühl auf glühenden Kohlen zu gehen. Ob man wohl Blasen an den Sohlen bekommen kann? Das Hotel Schwarzhorn ist jetzt in Sicht, aber schaff’ ich das wirklich noch bis dort? Dermassen ‘auf den Weggen’ habe ich mich nicht mal während der Züglerei gefühlt. Vielleicht weil ich die letzte Nacht nicht geschlafen habe!
Aber bei einem kühlen Bier im Schatten der Gartenwirtschaft erholen sich die Lebensgeister langsam wieder und ich suche mir im obersten Stock eine noch nicht belegte Matratze, um mein Lager bereitzumachen. Es ist immer gut, wenn man in der Dunkelheit nicht noch alles hervorkramen und suchen muss. Ich schleppe zwar eine Taschenlampe mit, leider ohne vorher kontrolliert zu haben, ob sie noch tut!! Selber schuld.
Um die Zeit bis zum Nachtessen zu überbrücken, könnte man jetzt noch Karten schreiben, oder sich jener Gruppe anschliessen, die UNO spielt! – Nein, zuerst wird Hans Mory herzlich begrüsst und willkommen geheissen. Er kam von Kandersteg und musste von Turtmann mit der Seilbahn und dann mit dem Postauto hierher fahren.
Eine köstlich mundende Suppe läutet das Nachtessen ein. Mit Heisshunger machen wir uns darüber her. Nur zögernd will uns die Wirtin ein zweites Mal schöpfen weil sie Bedenken hat, dass wir dann den Rest nicht aufessen. Tatsächlich gibt’s ein ausserordentlich reichhaltiges Menü. Aber zusammen mit einem Glas Wein schaffen wir auch das spielend. Prost! Den ganzen Tag an der frischen Bergluft schafft schon einen guten Appetit.
In der Nacht erwache ich an einem leisen Tappen im Dunkel. Günstige Gelegenheit, im geliehenen Licht einer andern Taschenlampe hinauszugehen. Eine kleine Schnarchsymphonie stört Hans beim Einschlafen oder ist es das Kratzen im Hals, das sich bei ihm bemerkbar macht?

Sonntag, 14. Juli

Bedeutend ausgeschlafener als gestern, wird in aller Herrgottsfrühe der Aufstieg Richtung Meidpass anvisiert. Gestern war ich viel zu müde um noch ‘pap’ sagen zu können, geschweige denn die nähere Umgebung des Hotels etwas auszukundschaften. Nur zwei Häuser weiter steht hier nämlich eine kleine Kapelle. Die Tür steht schon offen und ich möchte nur einen kleinen Blick hineinwerfen. Der Sigrist werkelt etwas vorn beim Altar. In den Fenstern sind Wappenscheiben eingelegt. Mein Blick bleibt an der Hintersten kleben. Ein Spaten und zwei Sterne und darunter ganz eindeutig der Name GRABER. Mich laust der Affe. Was für eine Bewandtnis hat mein Name mit Meiden im Turtmanntal?
Aber ich muss machen, dass ich den andern nachkomme, ich will nicht schon wieder zuhinterst sein. Schon bald sind wir auf der Höhe, wo die Sonne über den gegenüberliegenden Bergkamm klettert und ihre Strahlen wie silbrige Bänder durch die Lärchen fluten lässt. Auf einer kleinen Wiese küsst sie gerade einen wunderschönen Türkenbund vom Morgentau frei. In Gedanken mache ich mir einen Schnappschuss von diesem erfrischenden Bild und lege es zur Sammlung der vielen wunderbaren Eindrücke. Ich möchte noch lange davon zehren können.
Sind wir heute so liederlich gesattelt ausgezogen, dass Hans das Bedürfnis hat, mal eine kurze Lektion übers Rucksackanschnallen zu geben? Bei diesen tausend Riemen eigentlich kein Wunder und ich stelle fest, dass ich’s auch anders machen muss: Beim Aufstieg lockern und beim Hinuntergehen eher fest, damit’s nicht so hin und her wackelt.
Inspiriert durch Hansens schlaflose Nacht, kommen wir zu einer Sonntags- oder Wander-Betrachtung über die Pellegrino-Mönche, welche nirgends Wohnsitz nehmen und immer auf der Wanderschaft sind. Wandern gleich vorwärtsgehen, gleich Veränderung. Von jedem Standort aus, sehen Berge anders aus. Wann erreichst Du das Ziel, wenn Du stillstehst? Wenn Du festhältst und nicht bereit bist, andere Perspektiven zuzulassen. Schon bin ich wieder knallhart an meinem Problem: loszulassen.
Also geht’s weiter und bald sind die Hütten der Alp Stafel erreicht, wo wir uns am klaren Brunnen vor dem ‘Trog’ etwas abkühlen können. Ich spüre, dass ich mein Handgelenk immer noch etwas schonen sollte. Meine multifunktionale Kopfbedeckung, die ich mir in Davos erworben habe, dient sage und schreibe auch als Verband und Handgelenkstütze. Sonst kann man sie auch noch als Stirnband, Halstuch, Peter-Staub-Mütze, Piratentuch, Putzfrauen- und Türkinnenkopftuch, Judenkäppli und vielleicht sogar als Bauchbinde gebrauchen. Den linken Stock trage ich heute im Rucksack mit, und wenn die Schlinge noch etwas enger wäre, hätte ich in der Rechten vielleicht noch etwas mehr Halt. Hat Hans einen Kreuzschraubenzieher an seinem Messer? Nein, aber eine andere Idee. Diese Schlaufe schmilzt man am besten mit einer Flamme ab, damit sie nicht ausfranst. Die Schraube zu lösen stellt kein Problem dar, jedoch ein Zündholz anzufachen!
Zu dritt wird eine Festung gegen den Wind gebaut um auf kleinstem Raum zwischen Rucksack und Picknickutensilien ein Zündholz zum Brennen zu bringen. Hurra, wir schaffen’s!
Gegen Mittag und somit gegen die Passhöhe, bedeckt sich der Himmel gnädig mit dunklen Wolken. Aber nicht um auszuleeren, sondern nur, um uns ein bisschen Schatten zu spenden und unsere lechzenden Kehlen etwas zu neutralisieren.

Fritz Zinniker

Um allenfalls knurrende Magen zu beruhigen, lassen wir uns am hohen Gestade des Meidsees nieder. Annignas Sirup könnte noch etwas Verdünnung gebrauchen und die Flasche wird kurzerhand mit Schnee aufgefüllt. Nur mit Trinken ist jetzt Essig, jetzt muss man warten, bis die Cassis-Glace wieder flüssig ist! Bis am späten Nachmittag hat sie das dann auch geschafft.
Aber vorher das hehre Gefühl auf der Passhöhe. Die Wolken haben sich wieder verzogen, wie sich’s gehört, wenn man die Aussicht geniessen will: den Blick hinunter auf beide Seiten, wo der Weg sich zwischen Felsen und Alpweiden schlängelt und viele kleine Seelein sich im Sonnenglanz spiegeln.
In Richtung Brunegg- und Bishorn, die leuchtend weissen Gletscher. Die frische Spur, die sich auf dem grossen steilen Schneefeld hinaufzieht bis zum Gipfel. Dort unten, aussen auf der Kante des Bergrückens der gelbliche Kasten – das Hotel Weisshorn. Unsere Unterkunft heute Abend – mit Zweibettzimmern! Aber auch das muss zuerst noch verdient sein, haben wir doch erst gut die Hälfte des Weges hinter uns. Dreihundert Meter tiefer, am grünlich schimmernden Lac de Combavert, lösen wir mit einer ausgedehnten Rast die Vorausrenngruppe ab. Monique habe es sich nicht nehmen lassen, ein Bad im eiskalten Wasser zu riskieren. Sie schwärmt davon, es habe sich hernach so prickelnd angefühlt, als sei’s Champagner gewesen. Meine Begeisterung für das Chrällelibad reicht maximal bis zu den Knien, aber gut tut’s alleweil.

genussreiche Rast

Noch eine ganze Weile ruhen wir inmitten der herrlichsten Alpenflora. Die Alpenaster hat den grossen Enzian mit Blühen abgelöst. Dieses Jahr habe ich nur Augen für die wunderschönen Hauswurze. Wie Krönchen leuchten ihre Blüten purpurn und golden auf ihren hohen Stängeln. Zu ihren Füssen kuscheln sich unzählige Rosetten Kopf an Kopf zu einem dichtverwobenen Teppich, welcher manch kantigem Fels ein einladend weiches Aussehen verschafft.

meine Kneipp-Kur

Kurz nach dem Aufbruch, treffen wir mit der Nachhut zusammen, welche ihre Rast am Pass oben lange ausgedehnt hat. Gelegenheiten benützend zum Diskutieren, Probleme zu bewältigen versuchen, zu philosophieren, sich Sorgen von der Seele zu reden oder näher zum Du zu finden. Während des Marschierens geht’s Reden nicht so gut, dafür das Denken umso besser. Oder zu spüren. Ich spüre jeweils eine sehr starke Verbundenheit mit der Natur. Ob mir diese Verbundenheit auch den Weg zu meiner Wirklichkeit zeigen kann?
Vielleicht waren wir alle zu sehr in Gedanken versunken, jedenfalls haben wir alle die Wegmarke übersehen, die Monique unter Opferung eines Lippenstifts für Dieter hinterlassen hat: ein Stein, der die Form des Wanderschuhs von Dieters Routenbeschreibungen hatte.

der Salon-Ofen im Hotel Weisshorn und Türkenbund


Nach der Hürde des letzten Aufstiegs (von oben sah alles so schön eben aus!) landen wir endlich im Hotel Weisshorn. Dieses herrlich alte Hotel, erbaut im Jahr 1882 auf 2337 Meter Höhe, von dem Margrit so geschwärmt hat! Hier herauf wurden die Leute noch per Sänfte getragen, auf dass ihr Fuss nicht an einen Stein stosse. Verschiedene Gegenstände zeugen noch von vergangenen Zeiten. Das Brünnlein im Treppenhaus neben dem Peep-Show-WC oder die Klingelanlage wo bei Betätigung des Klingelknopfes das Fälleli mit der Zimmernummer dem Pagen verraten hat, wer ihn wieder treppauf gehetzt hat. Im Salon kann man einen alten Badeofen mit Dusche und einer Blechsitzbadwanne bewundern mit eingebauter Mischbatterie und Thermometer. Sicher dazumal ein Wahnsinns-Luxus. Damit man aber nicht im Salon duschen muss, sind auf jeder Etage neue Duschen mit integrierter Bodenschlussreinigung eingebaut und an den Brünnlein kann man die verschwitzten Hemden und Blusen auswaschen. Vor dem Hotel lassen wir die Sachen zwischen Leintüchern am hoteleigenen Stewi im frischen Abendwind trocknen. Nach dem Nachtessen weiss der Himmel nicht so recht, ob er jetzt grollen will oder nicht und ob des Kampfes der Wolken entwickelt sich eine einzigartige Abendstimmung am Firmament. ‘Noch angebundene’ Sonnenstrahlen brechen mit ihrem Glanz durch Löcher in den Wolken und schmelzen deren Ränder zu glühendem Gold. Mit zunehmender Dunkelheit erstrahlt aus der Tiefe des Tales langsam ein Lichtermeer, wie wenn’s eine grosse Ebene wäre, obwohl Crans Montana dort drüben eigentlich auch in der Höhe liegt.
Nach ein paar Runden Hornochsen ist auch schon bald wieder höchst Zeit für ins Bett. Unser Punktezählmanager hat nämlich seine liebe Mühe mit zusammenzählen. Was ums Himmels Willen gibt schon wieder 49 und eins?
An Abenteuer kann’s ja nicht fehlen. Sogar ein leibhaftiges Erdbeben wird heute Nacht geboten. Also wenn man merkt, dass man mitsamt dem Bett herumrutscht (natürlich nur ein paar Millimeter) sei dies etwa Stärke 5,3, wie wir am Abend herausfinden.

Montag, 15. Juli

Neben ausführlichen Erörterungen, wie und wer alles das Schütteln gespürt hat, wird ausgiebig Zmörgelet. Die mit Dampf erhitzte Milch ergibt zusammen mit einem spontan gestifteten Cacao einen Capucino comme il faut.

Start beim Hotel Weisshorn

Heute wird eigentlich als Ruhetag betrachtet, haben wir doch laut Programm ‘nur’ 3 ¼ Stunden Marschzeit vor uns. Hoch über dem Tal beginnt unsere Wanderung. Die über den Bergkamm emporkletternde Sonne wirft den langen Schatten einer buckligen Karawane das steile Bord hinunter. Die Strecke zwischen Pluto und Neptun auf dem Planetenweg ergibt gerade die erste Etappe bis zur Rastlesung. Bis zur Mittagsrast sind wir wieder in den oberen Gefilden des Lärchenwaldes angelangt.
Bevor man sich nun Richtung Zinal in den Abgrund stürzt, werden verschiedene Knie vorsorglich bandagiert. Weil ich nicht schon wieder Rucksack auf-ab exerzieren möchte, gehe ich für diesmal alleine weiter und geniesse in meinem Rhythmus: Zwischen Alpenrosen und Trollblumen winken mir ganze Türkenbund-Büschel entgegen. Das Weisse da im Gras – sind tatsächlich Paradieslilien! Und dort unter jenem Baum, sind dies nicht blaue Riesen-Akelei?

Blick Richtung Zinalgletscher und Cabane du Mountet

Was bewegt sich dort oben? Nein, ich glaub’s ja nicht – eine Gämse. Oder wohl nur eine Geiss? Nein ein Glöckchen hat sie nicht. Also für mich ist sie jetzt einfach wirklich eine Gämse und ihre Präsenz rundet mein persönliches Glücksgefühl vollkommen ab. Ich bin wieder einmal so happy, dass mir die Tränen kommen. Warum weine ich denn? Aus lauter Dankbarkeit. Moniques Lesung zum Gedanken kommen mir in den Sinn. Wahrscheinlich ist mir ein dankbarer Gedanke ausgerutscht und ins Herz hinunter gefallen. Dabei hat er gerade eine Flutwelle von Herzwasser ausgelöst. Einmal mehr möchte ich, ich könnte dieses Glücksgefühl in meinem Herzen konservieren, damit ich mich in öderen Zeiten darauf zurückbesinnen kann! Und sei’s auch nur, den gerade darauffolgenden Abstieg fast leichtfüssig hinunterzuhüpfen!
Unten im Hotel Le Trift wartet ein Zweibettzimmer mit Duvet und Dusche zum Abkühlen. Im Örtchen kann man lädele, Einzahlungen machen (endlich), sich mit neuem Proviant versorgen, Alt-Zinal besichtigen, Karten schreiben, Glacé geniessen und, und, und…. z.B. warten aufs feine Racclette zum Znacht.
Nach einer kurzen Runde Hornochsen, ergibt man sich müde dem Genuss eines richtigen Bettes und versinkt begleitet vom dum dum dara dum dum des benachbarten Disco-Sounds ins Reich der Träume. Was für verrücktes Zeug da einem so vorgegaukelt wird! Gerade habe ich mich mit Margrit darüber unterhalten, wie sie dazukommt in ihrem Alter zum fünften Mal schwanger zu sein. Das Erste nach dem Erwachen ist, Monique zu fragen, wieviele Kinder Margrit habe. – Vier, warum?

Dienstag, 16. Juli

Unsere Packung ist heute ein ganz klein wenig leichter, weil wir unnötigen Ballast bis morgen im Hotel deponieren können. Die Rüebli, ein Teil vom Käse, die Ausgeh- und Ersatzbluse. Aber sonst? Der Regenschutz wäre möglicherweise entbehrlich, aber trotz schönstem Wetter… man kann nie wissen.
So nehmen wir die Strecke Richtung Zinalgletscher unter die Füsse. Der noch schattige Hang dem rauschenden Bach entlang ist übersät mit weissem Eisenhut. Heute irritiert mich das Rauschen oder vielmehr das Vorbeiziehen des sprudeligen Gletscherflusses sehr. Schon beim Schuhe binden hatte ich dieses unstabile Gefühl. Mein Schwindel, der mich nun seit anderthalb Jahren in Ruhe gelassen hat, wird mich doch nicht ausgerechnet jetzt einholen wollen? Nur nicht zu sehr darauf achten!
Bald grüsst die Sonne mit ihren ersten Strahlen, die sie über den Bergkamm wirft. Noch reichen sie nicht bis zu uns hinunter ins Tal, aber die von ihnen beschienen Bäume auf der Felskante erscheinen uns wie ein filigranes Meisterwerk aus Glas oder gleissendem Silber.
Der Aufstieg wird immer steiler. Vielerorts sind zur Sicherheit Ketten angebracht, welche man gerne in Anspruch nimmt. Bleibt immer noch, auf der Hut zu sein, damit man mit den Schuhen keine lockeren Steine löst, welche den Nachkommenden unten zum Verhängnis werden können.
Nun liegt das silbrig glänzende Band des Flusses schon tief unter uns, aber immer noch begleitet uns sein Rauschen auf unserem Weg. Bald aber füllt der mächtige Gletscher das ganze Tal aus und sein gigantischer Fluss aus ewigem Eis erheischt Stille und Staunen. Von Ferne ein Donnergrollen. Besorgte Blicke zum eigentlich gar nicht grauen Himmel. Das ist eine Lawine! Hansens geübter Blick hat bald herausgefunden, dass es von einem Hängegletscher jenseits des Tales kommt. Gebannt können wir zusehen, noch ehe das Donnergrollen uns erreicht hat, wie er Teile seiner über Jahre und Jahrzehnte hinweg festgehaltenen Eismasse loslässt. Befreit aus der Erstarrung stürzen sich die Brocken die Felsrinne hinunter. Sie stieben durch eine Schlucht und breiten sich eine Etage tiefer auf dem nächsten Gletscher wieder aus. Vielleicht schmelzen sie hier an der Sonne und sprudeln später mit dem Silberband zu Tal oder sie vereinigen sich wieder mit der andern Eismasse und überdauern weitere Jahrzehnte in eisiger Umklammerung.

Panorama kurz vor der Cabane du Mountet

Der Weg windet sich um einen weiten Rücken des Bresso und hinter jeder Biegung erscheinen noch mehr mit Eis überzogene Berge, von denen gewaltige Gletscherzungen herunterfliessen. Kein Wunder, der Dente Blanche ist 4357 Meter hoch. Mein Herz ist voll Staunen und Dankbarkeit für dieses Erlebnis. Was ist schon das bisschen Rucksack schleppen gemessen an diesem Lohn?
Der letzte Bergrücken zeigt uns seine steinige Schulter und Esthers Knie werden es diesen Felsbrocken, die auch Edith so ‘liebt’, wohl auch noch eine Zeitlang nachtragen. Aber endlich sind die 1200 Meter Höhendifferenz überwunden und die Cabane du Mountet erwartet uns als Gäste für die Matratzen Nummer 74 bis 89! Viele Gäste, die meisten Bergsteiger und Kletterer, sind schon eingetroffen und eine Menge Steigeisen, Pickel und Bergschuhe umlagern die SAC-Hütte.
Den freiwilligen Ausflug bis zum Gletscherrand lasse ich aus und schnuppere lieber ein bisschen Hüttenromantik. Ich kann zwar schlecht schätzen, aber gewiss sind für heute 50 bis 60 Leute hier zu Gast. Die Matratzen sind bis 111 nummeriert. Beim Zählen der WC’s und Waschgelegenheiten komme ich je auf zwei. Ein Cabinet vor dem Haus mit zwei Eimern zum Spülen, die man nach Bedarf am Wasserloch wieder auffüllen kann und ein chemisches (?) Versuchsklo auf etwa drei Metern luftiger Höhe, zugänglich über eine Hühnerleiter. Ganz neu. Die Tür hat ein riesengrosses Herz-Loch, welches von einem Männlein und einem Weiblein umrahmt ist. Der überdimensionierte Kübel unter dem Häuschen wird wahrscheinlich jeweils per Helikopter ausgetauscht. Ein Ersatzding steht jedenfalls daneben bereit. Damit’s nicht zu schnell voll wird, ist Mann gebeten, sich des kleinen Geschäfts sitzend zu entledigen, damit jedenfalls dies durch eine Rinne über die Felswand abfliessen kann. Wieder einmal nehme ich mir vor, beim Trinken etwas zurückhaltender zu sein und ahne nicht, dass ich mich damit um ein einmaliges Erlebnis bringe. Die andere Rita erzählt am Morgen, dass ihr Sterne am Himmel noch nie so gross vorgekommen seien wie jene, welche sie nachts durch das Herz in der WC-Tür erspähen konnte.

Bei der weiteren Inspektion der Hütte fällt mir der Ofen auf. Er ist fein säuberlich mit allerfeinsten Holzspänen zum Einheizen vorbereitet. Ein einziges Zündholz würde genügen, um ein wärmendes Feuer zu entfachen. Ich glaube zwar nicht, dass dies jetzt im Sommer über Leben und Tod entscheiden könnte, aber was weiss ich schon von dieser Gletscherwelt!
Das Telefon läutet, worauf der Junge des Hüttenwarts aufgeregt hinausrennt: der Helikopter komme. Natürlich möchte ich dieses Schauspiel auch miterleben. Aber er bringt nicht irgendwelches Material, sondern zieht eine, zwei Schlaufen oben im Berg.
Inzwischen entdecke ich auch, dass die Freiwilligen gar nicht zum Gletscherrand aufgebrochen sind, sondern nur bis zur Wegbiegung, etwa 200 Meter weiter weg. Das schaffe ich sogar in den Turnschuhen. (Gottseidank schleppe ich sie mit!) Dort weitet sich der Blick, diesmal über den riesigen Glacier du Mountet, der hinaufreicht bis zum Zinalrothorn. Bergsteiger kommen gerade von der Höhe herunter und sie erzählen, dass der Heli ihren Kollegen geholt habe wegen eines Verdachts auf ein Lungenödem. (Ein Lungenödem ist lebensgefährlich, aber was weiss ich schon von dieser Gletscherwelt!)
So kehren wir auch langsam zur Hütte zurück. Unterwegs pflückt Fritz den gelbblühenden Gemswurz. Der wird dann mit kochendem Wasser angebrüht und ergibt einen Tee für Annigna. Sie hat eine böse Erkältung erwischt, wahrscheinlich am ersten Abend. Aber sie gibt nur „en liechte Pfnüsel“ zu. Aber dass sie ein Alkacyl annimmt, stimmt mich etwas nachdenklich.
Inzwischen hat die Hütte noch andere Gäste erhalten. Zwei veritable Steinböcke weiden das gut gedüngte Gras rund um die Hütte ab. Schnell hole ich meinen Fotoapparat und will mich meinen Sternzeichen-Symbolen über die Felsen anschleichen. Aber wie eine Ohrfeige erinnert mich ein Schwindelanfall daran, dass ich von weiteren Kletterkapriolen besser absehen sollte. Also doch! Mit gemischten Gefühlen denke ich an den morgigen Abstieg mit den, jedenfalls für meine Begriffe, zum Teil nicht ungefährlichen Stellen. Aber schlafen wir erst mal drüber und lauschen weiteren, gewaltig donnernden Eisabbrüchen drüben am Obergabelhorn. Und später dem friedlichen Schnarchkonzert unserer und fremder Wandergenossen.

Mittwoch, 17. Juli

Bereit für den Abstieg

Um vier Uhr werden die ersten Aufsteiger geweckt. Für uns ist gottlob erst um halb sieben Morgenessen. Solange es noch nicht zu heiss ist, geht’s auch besser zum Laufen auch wenn es vorerst nur bergab geht. „Weisst Du, dass wir heute auf Rita etwas aufpassen müssen? Ihr ist nämlich schwindlig“ klärt Doris Hans auf. Es wird wohl nicht so schlimm sein. Die Aussicht zu betrachten, muss ich mir auf die Rast aufsparen. Nur den Kopf ruhig halten und nicht den Blick schweifen lassen, denn dies löst dieses unsichere Gefühl aus.
Aber sicher ist sicher. Schon bin ich an der Leine und Hans muss dorthin gehen, wo ich hingehe. Aber irgendwie bin ich froh, um diese Sicherheit im Hintergrund, wenigstens bis wir die gefährlichsten Klippen umschifft haben. Was würde jetzt passieren, wenn ich stürzen würde? Wir vergleichen unsere Gewichte und ich weiss nicht, ob er mich nicht überholen würde….
Glücklich haben wir das Felsbrockenviertel hinter uns und lagern zur ersten Rast. Hans Mory packt nicht nur seine Feldflasche aus, er kehrt das Unterste vom Rucksack zuoberst aber es hilft nichts, seine Windjacke ist nicht drin! Die hängt noch oben im Schlafraum. So verabschiedet er sich für heute von uns und kehrt nochmals um. Also ich überlege mir, ob ich an seiner Stelle nicht lieber zu einer neuen Jacke hätte kommen wollen. Bis elf Uhr sind wir wieder im Tal unten an einem schönen Picknickplätzchen und er wahrscheinlich wieder in der Hütte oben. Wer noch in Zinal vor der Mittagspause etwas einkaufen möchte, sputet sich und schaut, dass er weiterkommt. Ein bisschen frisches Obst täte schon gut, also schliesse ich mich an. Obwohl das Ziel praktisch immer vor Augen liegt und wir nicht trödeln, schaffen wir’s doch erst knapp vor Mittag, im Konsum einzutrudeln. Ausnahmsweise verschmähen wir heute den Rucksackfood zum Mittagessen und lassen uns im Restaurant le Trift Polenta, Rösti oder Salat servieren. Wie wohl der Käse aussieht, den wir im Depot gelassen haben? Die Plastiksäcke wurden über Nacht nämlich im Heizungskeller, gut temperiert gelagert.
Hier teilt sich unsere Gruppe wieder. Esther, Vreni und Dieter wollen ihre Knie etwas schonen. 1200 Meter Abstieg reichen ja eigentlich. Und sie erklären sich bereit, einen Teil unseres Bagages mitzunehmen. Sie verweilen noch etwas, warten auf Hans Mory und Dieters neuer Zeichenblock tritt in Aktion. Später erzählen sie uns begeistert von einer wunderbaren Postautofahrt über Vissoie und Grimentz bis zum Lac de Moiry.
Zuerst bin ich unschlüssig, welcher Gruppe ich mich anschliessen soll. Aber Annigna, sie mit ihrer Erkältung und Margrit lassen sich’s nicht nehmen, den Col de Sorebois in Angriff zu nehmen, also will ich auch nicht zurückstehen. Wir lassen uns also mit der Seilbahn hinaufgondeln. Vor etwa drei Jahren war ich mit Werner einmal hier oben und hätte mir dort nie träumen lassen, dass ich den ganzen gegenüberliegenden Berghang erwandern würde. Die ganze Strecke bis zum Hotel Weisshorn und noch weiter hinunter Richtung Rhonetal lässt sich von hier aus überblicken.

Hier ist mein Edelweiss!

Von der Station aus erschliessen im Winter verschiedene Skilifte das ganze Gebiet und so führt auch unser Weg einen grossen Teil des Aufstiegs über abgeraffelte, ausgewalzte Pisten. Wir haben diese Woche schon schönere Alpwiesen erlebt. Ein Trost bietet uns die Aussicht auf der Höhe. Aber auch diese wird einem durch eine steife Brise vergällt.
Das Ziel dort unten an der Staumauer des halbleeren Lac de Moiry anvisierend, bringen wir auch noch die zweite Etappe vom heutigen Abstieg über 600 Meter Höhendifferenz durch Murmeltierhänge und bestossene Alpweiden hinter uns.
In dem von schwarzem Rindvieh umlagerten Restauräntchen erholen sich die müden Geister bald wieder bei einem Glas Sirup aus Tannenspitzen. Es ist ein ansprechendes Lager mit eisernen Kajütenbetten und für zwei Franken kann man sich sogar den Luxus einer herrlichen Dusche leisten. Nachdem ich meine Wäsche an einem Geländer hoch über einem Abgrund im Wind zum Trocknen flattern lasse, setze ich mich zu den Ostschweizern vor die Hütte an die Sonne. „Habt ihr die Edelweiss da oben gesehen?“ fragt Bea. Jetzt hat sie natürlich keine Ruhe und sie muss sie mir zeigen, nicht zuletzt, weil es nur etwa fünf Minuten von hier ist. Mit dem Fotoapparat bewaffnet werfe ich mich vor meinem zweiten Edelweiss, das ich in meinem Leben life sehe, dicht neben einem Kuhfladen in den Staub und verwünsche diesmal den meist nützlichen weiten Winkel des Objektivs.
Inzwischen ist es Zeit sich ins untere Restaurant direkt an der Krone des Staudamms zu begeben, wo uns ein interessantes Nachtessen vorgesetzt wird. Als Vorspeise gibt’s Hörnli mit Gorgonzolasauce und als Hauptspeise werden Spaghetti Bolognese gereicht. Trotzdem wir die LaLiBus bei uns haben, ergibt sich die Gelegenheit zu einem Abendgesang oder gar Quodlibet wieder nicht. Auch Fritz ist noch nachdenklicher als sonst. Es ist heute gerade ein Jahr, seit er seinen Sohn durch einen tragischen Unfall verloren hat.
Bea entpuppt sich als nützliche Heilkräutersammlerin. Unterwegs hat sie allerlei Blüten und Blätter gegen Erkältungs- und andere Krankheiten gesammelt und bei der Wirtin um heisses Wasser gebeten. Diese gab ihr gerade Anweisungen, damit Bea das Wasser selber kochen kann und unsere Patienten können von frischem Alpenkräuterelixier profitieren.
Es ist heute noch nicht dunkel und wir suchen schon die Heia auf. Von meinem Blickwinkel in der unteren Etage sehe ich, wie sich Monique im Bemühen, das Bett möglichst wenig quietschen und schaukeln zu lassen, im Zeitlupentempo unter die Wolldecke des gegenüberliegenden Oberdecks kuschelt. Und bald sehe und höre ich nichts mehr….

Donnerstag 18. Juli

Beim frühmorgendlichen Marsch über die Staumauer bin ich noch froh um Faserpelz und Ohrenklappenvariante meiner Super-Kopfbedeckung. Heute probiere ich’s ohne Handgelenkverband. An den Zustand meines Schwindels bin ich mich noch am Gewöhnen. Hätte ich doch die Pillen eingepackt! Bereitgelegt habe ich sie, wurden aber als zu schwer befunden. Ich habe nun schon herausgefunden, dass es am Besten geht, wenn ich hinter jemandem gehen und in seinen Fussstapfen wandeln kann und die Augen nicht zu fest bewegen muss. Hinter Esther fühle ich mich auch mit dem Tempo gut. Sie hat einen fabelhaft regelmässigen Schritt.

Blick Richtung Arolla und Mt.Blanc de Cheillon

Unsere erste Rast, die uns die Geschichte über die Trommel und die Ziehharmonika näher bringt, wird umrahmt von hundertstimmigem Kuhglockengebimmel. Diese hier fast schwarzen Tiere tun sich gütlich an den würzigen Alpenkräutern und ihr Geläute begleitet uns weiter den Hang hinauf. Plötzlich, hinter einer Wegbiegung ist mit einem Schlag Ruhe. Dafür trillert eine Lerche und jauchzt dem frischen Morgen zu. Ein wenig später tönen die Glocken von weiter unten, jetzt etwas leiser, wieder bis zu uns herauf. Wieder eine Rast und wieder ein erneutes Flippen: „Esther pass auf, fast wärst du auf ein Edelweiss gesessen!“ Und da hat’s noch mehr und dort auch!

Edelweiss-Picknick

Weiter dem Torrentpass entgegen, dem Lac des Autannes entlang, wird die vielfältige Flora von violettblau blühendem Enzian abgelöst, von dem es den Anschein macht, als sei er hier angesät worden.

Margrit und Fritz auf dem Torrentpass

Dann wird der Boden wieder karger, steiniger, steiler. Obwohl ich versuche, mit Schritt, Atem und Stock einigermassen in einen Rhythmus zu kommen, wird meine Puste zunehmend lauter. Ein Vergleich mit einer Dampfwalze wäre gewiss nicht weit hergeholt. Aber die beschauliche Sicht bei Postkartenwetter oben auf dem Pass, wo die Steinmännchen aufgebaut sind, lässt einen schnell die Strapazen der Anstrengung vergessen. Am gegenüberliegenden Hang schlängelt sich die Postautostrasse bis zuhinterst nach Arolla.
Irgendwo dort hinter den sieben Bergen werden wir morgen dann herumkraxeln. Dazu wetzt sich Hans jetzt seinen kaputten Stock. Sogar einen Ersatzspitz schleppt er mit.
Aber näher und in Reichweite liegt ein kleines Seelein und es wird abgemacht, dort die nächste Rast einzuschalten.
Das Fussbad lockt und da bin ich natürlich wieder unter den Ersten, die im feinen Lehmschlamm suhlen. Mit den Stöcken als Halt ist es etwas weniger rutschgefährlich. Aber was herrlich ist an den Füssen und zwischen den Zehen, ist auch heilsam für angeknackste Knie. Doris bekommt einen richtigen Lehmwickel verpasst, welcher eine Viertelstunde ziehen muss. Für die zweite Etappe schliesse ich mich der Gruppe mit Hans Mory, Bea, Rita und Uschi an. Hans hat uns eine seiner Karten mitgegeben, so können wir den Weg nicht verfehlen. Ausserdem kann man auf der Alp unten fragen und so führt uns der Weg bald wieder zur Waldgrenze hinunter.
Schon erscheinen unter uns die kleinen und grösseren, steingedeckten Dächer der Schober und Häuser von Villaz. Einsteigen ins Postauto ist in La Sage vorgesehen, aber Villaz hat ein Lädeli und eine Gartenwirtschaft. So ertappen uns Nachkommende bei einer Exklusivrast vor einem grossen Coup. Eigentlich kann man auch hier einsteigen. Das Postauto macht nämlich die Schlaufe La Sage – Villaz – La Sage. Nur Monique, Lotti und Karl haben gewissenhaft die ganze Strecke zurückgelegt. Der Rest hat’s bei der nächsten Haltestelle aufgegeben – ohne Glace. Diesmal überlassen wir das mühsame Bergansteigen dem Postauto, welches in seinem Bauch auch alle unsere Rucksäcke bis Arolla hinaufbugsiert. Während die Strasse eine grosse Kehrschlaufe macht, können wir unser heutiges Tageswerk an jenem Hang nochmals Revue passieren lassen. Fritz macht auf die Lärchenwälder am gegenüberliegenden Hang ob Les Haudères aufmerksam. Grosse Teile sehen ziemlich krank aus und zum Teil sind nur noch die obersten Kronen grün. Ihnen setze hier der Lärchenwickler so sehr zu.

Zeichnungen von Dieter Buser in Villa und La Sage

Arolla naht, das erste Hotel an der Strasse. Ein Aufschrei – La Tza. Ist das nicht unseres? Könnte man hier nicht aussteigen? Doch schon, aber unseres heisst etwas von Chalet de la Tza. Jedermanns Beschreibung und Plan ist halt im wohlverstauten Rucksack im Bauch des Postautos. So fahren wir, wie wir gelöst haben bis zum Postplatz von Arolla, um dort dann festzustellen, dass wir doch aussteigen hätten können. Es gibt nur ein Tza und dies liegt gut zwei Kilometer weiter unten. Gutmütig nimmt uns der Chauffeur nochmals mit. Sicher hat er Erbarmen mit uns armen, müden Wanderern.
Unser Zimmer hat einen Balkon, wo die späte Nachmittagssonne die Wäsche trocknet und wo die Schuhe und Socken ausgelüftet und zum Teil frisch eingeschmiert werden. Drinnen stehen zwei eiserne Kajütenbetten und wenn man den Bauch fest einzieht kommen zwei Personen im Zwischenraum nebeneinander vorbei. Zum Glück kann man die Rucksäcke unter je einem Bett und im Kasten verstauen, sonst wäre das Lavabo in der Ecke überhaupt nicht erreichbar. Kein Wunder, dass es heute Leute gibt, die herausgefunden haben, dass es noch freie Doppelzimmer hat und dafür gerne einen Zusatzobolus entrichten. Zum Nachtessen lässt sich’s der Chef nicht nehmen, uns persönlich das echte Walliser Raclette abzustreichen. Bevor wir unsere quietschenden Schaukelhängematten aufsuchen, muss noch eine Runde gehornochst werden. Einige von uns sind schon süchtig. Habe ich für nicht Eingeweihte schon erklärt, dass bei diesem Kartenspiel derjenige der Verlierer ist, welcher die grösste Hornochsenherde einheimsen muss?

Freitag, 19. Juli

Im Frühtau zu Berge wir geh’n fallera… und schneller als erwartet, haben wir den Postplatz von Arolla wieder erreicht. Auf der Höhe von 2000 Metern liegend und im Winter durch verschiedene Skilifts attraktiv gemacht, scheint’s hier ein rechter Touristenort zu sein. Im Moment schläft zwar noch alles und hinter dem letzten Haus beginnt auch schon der Lärchenwald. Da wo die ersten Sonnenstrahlen durch die Bäume hindurchdringen und in ihrer Aura Myriaden tanzender Lärchenwickler erscheinen lassen. Wie Bienen einen blühenden Baum, umschwirren diese Insekten die grosse, von der Sonne beschienenen Tanne. Schade, ich habe versäumt Fritz zu fragen, was diese kleinen Biester denn wickeln, damit sie den Waldriesen so sehr zusetzen können.
Bald wird der Wald von einer vielfältigen Flora abgelöst. Die Sonne erwärmt die Wiesen und entlockt den Gräsern einen herrlich würzigen Duft. Die Heerscharen von Männertreu (es gibt sie noch!) verraten ihre Anwesenheit, weil es so stark nach Vanille riecht. Erhebt man seine Augen von den Rucksackstudien, erscheinen einem die ganzen Alpweiden gesprenkelt voll von diesen schwarzroten Punkten.
Das Pfeifen der Murmeltiere wechselt ab mit donnerndem Grollen abbrechenden Eises am Gletscher drüben. Wir halten Ausschau, von welchem es kommen könnte und werden gerade Zeuge eines gewaltigen Abbruchs. Erst wenn die Massen schon unten zerstoben sind, dringt das Donnern an unser Ohr herüber.
Eh wir’s uns versehen, sind wir schon wieder im Sattel oben. Diesmal haben wir nicht den Col de Riedmatten anvisiert, sondern wir klettern wie die Ziegen über den Pas des chèvres. Von dort kommt man direkt über den Gletscher zur Cabane des Dix. Aber zuerst muss das Hindernis einer senkrechten Felswand überwunden werden.

Uiuiui !!!

Unsere Vorausrenner haben hier wieder einmal auf uns gewartet. Gerade kommt eine Kursgruppe von Bergsteigern die in der Felswand befestigte Leiter herauf. Alle sind angeseilt. So ist es sicher auch vernünftig, wenn auch wir alle uns von Hans abseilen lassen. Einer der heraufkommenden Bergsteiger offeriert uns zum Spass, jeden für einen Franken an sein Seil zu knüpfen. Er habe doch ein Dickeres. Drei von uns verschwinden daran in die Tiefe.

Monique passt auf und Hans sichert

Ich möchte von unten noch ein paar Fotos machen und lasse mich als Sechste von Hans abseilen. Vor dieser Expedition habe ich überhaupt keine Angst. Hinuntersehen macht mir nichts aus. Ein kleiner Adrenalinanstieg vielleicht beim Hinüberwechseln auf die zweite Leiter mitten in der Wand. Unten werde ich von Hans Mory in Empfang genommen und losgebunden. Nachdem ein paar fremde Berghasen zwischendurch wieselartig die Sprossen erklommen haben, kommt Vreni. Nach zwei, drei Schnappschüssen lasse ich die Fotografiererei lieber bleiben. Mir wird wieder schwindlig vom Hinaufsehen. So gebe ich den engen Platz für Nachfolgende frei. Aber weit komme ich nicht. Ich fühle mich wie auf einer Schiffschaukel. Von hier aus ist der Pfad nicht gut überblickbar, aber er scheint echt eng zu sein. Ich warte lieber hier aufs Seil und verzehre in aller Ruhe meine restlichen Malbunerli und Baby Bel. Nun kommt auch schon Hans Mory und er kann mich dazu überreden, zu probieren, hinter ihm herzugehen. Der Weg ist nur ein ganz kurzes Stück etwas kritisch und durchs Essen hat sich mein Gleichgewicht auch wieder etwas beruhigt.

Vreni in der Wand und unten auf dem Gletscher passierts

Hoffentlich konnte Hans noch ein bisschen fotografieren. Hansens Kamera muss leider auch neu geladen werden. Unten auf dem Stein. Dort müssen wir ihn wieder ein bisschen trösten. Die Bergsteiger haben ihn nämlich etwas vertäubt!
Nun liegt nur noch der Gletscher und ein riesiger Moränenhügel zwischen uns und unserem letzten Nachtquartier. Hier ist das Eis ganz flach und nur von ein paar Bächen durchzogen. Uschi lässt sich von einem Brett dazu verleiten, dieses als Brücke zu benutzen und Sekunden später müssen wir sie aus den eisigen Fluten retten. Ein grosser Schritt wäre sicherer gewesen. Am scharfen Eis hat sie sich die Hand etwas verletzt und Hans muss darauf bestehen, dass sie trockene Socken anzieht. Zur Hütte ist es nur noch etwa eine Viertelstunde, aber mit nassen Strümpfen reicht dies sicher für Blasen. Zum Glück ist ihr Rucksack wasserdicht und ihre Ersatzhosen trocken geblieben. Die nassen Jeans flattern nun lustig zum Trocknen an Beas Rucksack.

Ankunft in der Hütte

Die steile Moräne erklimme ich allein. Ich bemühe mich, meine Schritte ganz gleichmässig dosiert zu wählen, im Rhythmus mit dem Atem. Ganz wie ich es hinter Esther gelernt habe und ich schaffe es schon ganz gut.
Oben setze ich mich auf einen Stein und kann jetzt meine Blicke schweifen und die Eindrücke auf mich wirken lassen. Zu meinen Füssen im kargen Erdreich zwischen den Felsen, blüht der gelbe Gletschermohn. Eis und Firn rund um, an und auf dem nahen Mt. Blanc de Cheilon. Der grosse Glacier de Cheillon umfliesst den Fels, auf dem die Hütte steht und den wir überquert haben.

die Cabane des Dix

Dem Glacier de la Luette entströmen viele kleine Bäche, deren Wasser in der Sonne silbrig glänzt. Ich höre ihrem Rauschen zu, wie der Wind mit ihm spielt. Mal schwillt es an, dann wird es wieder weiter fortgetragen. Auch streichen einem die diversesten Düfte um die Nase. Wenn der Generator in Betrieb ist, wird der zur Hüttenromantik gehörende Latrinenduft auch noch mit Dieselabgas etwas durchmischt. Viele Alpinisten sind schon vor uns eingetroffen und ihre Schuhe und Seile liegen zum Verlüften und Trocknen an der Sonne. Damit nasse Wäsche nicht vom Wind davon getragen wird, beschwert man sie auf der Granitplatte mit einem Stein. Wir erhalten einen Schlag mit 16 Schlafgelegenheiten, welche aber nur etwa 12 Matratzen umfassen. Den einen oder andern trifft es somit, im Gräbli zu schlafen. Acht in der unteren und acht in der oberen Etage.
Die obere Etage würde man über die in den drei Stützbalken eingelassenen Sprossen erreichen. Solche sind aber nur an einem Balken vorhanden. Wahrscheinlich hat sich mal einer den Kopf angeschlagen und dann in seiner Wut die Dinger herausgerissen. Wie um alles in der Welt kommt man hier in der Nacht herunter, wenn man mal raus muss? In der Dachschräge prangen ausserdem an zwei Orten riesengrosse Schraubenbolzen, welche wahrscheinlich bei Sturmwind das Dach auf dem Haus behalten sollen. Die Wut um diese herauszuziehen müsste schon enorm sein. So ziehen wir, die wir oben schlafen es vor, mit dem Kopf gegen den Gang zu schlafen. Jeder macht sich sein Nestchen schon bereit. Die Dusche müssen wir uns für heute denken. Vielleicht ist sie dort in der vierten Türe, jede mit dem Vorhängeschloss? Hinter den andern drei Blechtüren des gemauerten Schuppens hinter dem Haus verbergen sich drei (3!) geplättelte WC’s. Zwar nicht mit direkter Spülung. Dies besorgt Sturm und Regen dann schon. Die ganze Anlage ist ja zuoberst auf der Kante dieses grossen Felsens angelegt. Vielleicht nimmt’s der Gletscherbach mit, vielleicht wird’ für ein paar hundert Jahre aufs Eis gelegt….
Nein, hinter dem Vorhängeschloss ist der Generator. Diese Hütte verfügt also über elektrischen Strom. Dafür aber nicht über Wasser, da ja, wie bekannt zuoberst auf dem Felsen. So bringt ein Schlauch, der an einem Drahtseil befestigt ist, vom benachbarten Hügel herunter ein Rinnsal von einem Wässerchen, wenn man den Hahnen am Brunntrog vor dem Haus öffnet. Nicht zum Trinken, höchstens zum Hände waschen und mit Vorsicht zum Zähne putzen. Jetzt, solange die Sonne scheint, sogar warmes.
Eine heisse Bouillon, genossen aus einem henkellosen Chacheli, draussen vor dem Haus an der Sonne, gleicht vorerst den Salzverlust etwas aus. Heute Abend möchten wir uns bei Hans und Annigna für die Organisation dieser so eindrücklichen Ferienwoche bedanken. Hans Mory hat als Präsent ein Fotobuch über Jemen organisiert. (Eine der beiden Töchter von Hans und Annigna lebt dort). Natürlich nicht mitgeschleppt. So sind wir übereingekommen, dass die Beiden zuerst noch ein bisschen knobeln sollen. Jemand hat ein Bilderrätsel entworfen und nun Dieter den Auftrag erteilt, es ins Reine zu zeichnen. Die einen machen sich Notizen fürs Tagebuch, Dieter macht sich unterwegs bei den Rasten Skizzen in den Zeichenblock. Während ich neben ihm auf dem Bänkli vor dem Haus Warnposten spiele, für unverhofftes Auftauchen von Hans oder Annigna, erklärt er sich ausserdem bereit, mir seine Skizzen für meinen Bericht beizusteuern. Da hab ich’s nun. Von überall her werden die Erwartungen laut, dass ich wiederum meine Tagebuchnotizen veröffentliche. Und jetzt seid Ihr alle selber schuld, dass Ihr meine Ergüsse über Euch ergehen lassen müsst!!
Nach dem Nachtessen schicken wir Hans und Annigna an die frische Abendluft spazieren, während wir drinnen noch das Geschäftliche erledigen. Weil es im Aufenthaltsraum noch viele andere Leute hat, begeben wir uns mit den LaLiBu’s nach draussen, um bei untergehender Sonne Hansens Lieblingslied darzubringen. Margrit überbringt mit Pantomimengebärden den Dank aller Anwesenden für die gute Organisation. Hans hatte Margrit gegenüber vorhin eine Bemerkung gemacht von wegen laufendem Radio bei der Rast. Dabei wollte er doch dort nur seine Militärerlebnisse zum Besten geben und Margrit war gerade in eine Diskussion wegen Einsparungen beim Staat vertieft.
Ausser dem Bilderrätsel Zeichnen, hat Dieter auch noch über jeden von uns ein Verslein gereimt. Meines lautet:
D’Rita Graber flippt ame’n uss wäge Blueme und Bärge,
Gämse und Mungge, s’ isch au für uns e Gnuss.
Wir probieren noch, auf der unteren Seite des Hauses ein bisschen von der gespeicherten Sonnenwärme der Mauern zu profitieren und dort noch Luegit vo Bärge und Tal zu singen. Schön wär’s, wenn alle Brünnlein fliessen würden, dann könnte man sich vielleicht waschen, aber so begnüge ich mich mit Zähne putzen und speie die Zahnpasta über den Fels hinunter, welcher schon ganz weiss ist, weil andere vor mir auch dasselbe taten.
Noch eine ganz kleine Runde Hornochsen, neben einer Büchse Bier, wegen dem Mordsdurst. Bier trinken und keine Leiter, um herunterzusteigen! Also nehmen wir zwei Tabourettli mit hinauf. Die Nicht-Hornochs-Süchtigen sind inzwischen schon ins Bett gegangen und wissen dadurch nichts vom Glück, welches ihrer Zehen nachts harrt, falls sie die Riesensterne bewundern wollen hier auf 2928 Metern über Meer.
Oder auch nur, falls sie das Bedürfnis haben, ihre Lungen mit etwas Sauerstoff zu betanken. Aus Angst, dass uns jene erfrieren könnten, die ihr Lager vorne beim Fenster aufgeschlagen haben, darf das Fenster höchstens einen Spalt von zwei Zentimetern offen sein.

Samstag, 20. Juli

Jedenfalls sind heute Morgen noch alle im Dasein von Raum und Zeit erwacht und die Sonne erstrahlt, um unseren letzten Ferientag zu begleiten. Heller Dunst in den Tälern lässt die Silhouetten einer ganzen Anzahl hintereinanderliegender Spitzen und Bergketten erscheinen. Ich bin gespannt, was aus meiner Gegenlichtaufnahme mit der Sonne hinter der Fahne wird.

Sogar mein Wölklein ist auf Dieters Morgenbild!!!

Morgenstimmung mit den von uns bezwungenen Bergketten
Sogar mein Wölklein ist auf Dieters Morgenbild!!! Morgenstimmung mit den von uns bezwungenen Bergketten

Am gegenüberliegenden Hügel, von welchem die Wasserleitung hinübergeht, wird die erste Rast und die letzte Morgenlesung gehalten. Ein Blick zurück erhascht ein Bild von Bächen aus fliessendem Silber, welche sich durch schwarzes Gestein schlängeln. Der Briefkasten für die Morgenzeitung ist noch leer. Als Wegweiser und Signalpfosten stehen dem Weg entlang nämlich ab und zu auf roten Stangen rote Zylinder, welche aussehen wie die amerikanischen Briefkästen. Ich habe es natürlich zuerst wieder geglaubt, als jemand erklärte, dass dort bei Nebel Lichter hineingestellt würden, damit man den Weg besser finde. Aber dass der Wind, der hindurchbläst ein heulendes Geräusch machen könne, glaube ich hingegen immer noch ein bisschen.
Hier ist auch erstes Abschiednehmen. Um heute heimzukommen, können Bea, Rita und Uschi nicht gerade trödeln. Aber sie haben ja alle einen guten Schritt und sind ausserdem noch jung. Dank ihnen ist das Durchschnittsalter unserer Gruppe, wie gestern errechnet auf 57, statt wie ohne sie auf 60!! Auch ein Einkauf von frischem Grünzeug für den Sonntag, bewegt einige, auch auszuziehen. Sie werden aber am Bahnhof in Sion wieder auf uns warten.
So wirft die Sonne vom schmalen Grat den langen buckligen Schatten von mir, Vreni, Margrit, Doris, Hans und Annigna, Dieter und Esther auf die linke Seite der Moräne hinunter. Auf der rechten begleitet uns noch ein gutes Stück der Gletscher. Aber von beiden Seiten ertönt im Stereosound das Rauschen der schmelzenden Gletscherwasser herauf.
Noch ein letztes Stück steilen Abstiegs und wir müssen unten von der schwankenden Hängebrücke aus den tosenden Wasserfall des aus andern Regionen hergeleiteten Zufluss des Lac des Dix bewundert haben. Enorme Wassermengen wälzen sich hier aus dem Stollen über den Felsen hinunter und doch ist der See nicht voll. Sein Gestade liegt so tief, dass man weiter vorn am Weg die Überreste der Kirche, welche durch den Bau der Grand Dixance überflutet wurde, auf einem Felsvorsprung im Trockenen sieht. Ob man wohl auch etwas von der alten, viel kleineren Staumauer, welche auch überflutet ist, ausmachen kann? Aber nein, dazu ist das milchige Gletscherwasser viel zu undurchsichtig.

Hängebrücke beim Lac des Dix

Noch eine letzte ausgedehnte Mittagsrast, inmitten der herrlichen Alpenflora und Herdengeläute. Jetzt kann ich mir’s nicht mehr verkneifen und klaue einem Fels ein Eckchen seines Hauswurz-Pelzes. Ein leeres Tuppergeschirr tut mir gute Dienste, um dieses Kleinod unzerdrückt heimzubringen. Ich hoffe nun nur noch, dass es sich beim Stein aus der Diavolezza auf Werners Grab zweitausend Meter weiter unten im Tal akklimatisieren kann.
Die letzten paar Kilometer, schön eben dem See entlang, sind für uns natürlich jetzt nur noch ein Pappenstiel. Abenteuerlich sind hier noch einige Tunnels. Beim Längsten hat es einen Lichtschalter welcher bei Betätigung für etwa fünf Minuten ein paar Lichter erstrahlen lassen. Wenn man Pech hat, geht das Licht aus, bevor man wieder an der Sonne ist und frau zieht sich von den tropfenden Felswänden blaue Flecken an den Armen bei. Oder man zieht einen Schlappen in den Pfützen. Es gibt auch Leute, die aus lauter Übermut versuchen, andere im Dunkeln zu erschrecken.

Annigna und Hans auf der Staumauer der Grande Dixance

Die riesige Mauer bildet nicht nur den Abschluss des Stausees, heute ist sie auch das Ziel und so etwa der Abschluss unserer diesjährigen, vom Wetter so sehr begünstigten Ferienwanderung. Ein Foto bei den Fahnen in der Mitte der Mauer, erinnert mich an jenes Foto, welches ich vor wenigen Jahren von Werner hier gemacht habe. Damals kam von unten vom Tal eine Wolke rasend schnell der Wand nach hinaufgekrochen und wölbte sich zu einem riesigen Tunnel hoch über uns und fiel auf der andern Seite der Krone wieder hinunter zum See. Heute entschweben wir bei strahlendem Sonnenschein, eingepfercht mit Sack und Pack, in der kleinen Gondel hinunter zum Fuss der Mauer. Im hässlichen Kasten, Hotel Ritz genannt bestellen wir uns zum Mittagessen, trotz schon genossenem Picknick, eine Riesenportion Filet de Perche. Rasch wird aus dem Rucksack das Necessaire herausgeholt und wir verschwinden vorerst mal irgendwohin, wo verschwenderisch Wasser sprudelt, wenn man den Hahnen öffnet. Es ist zwar nur kalt und trotzdem lässt sich’s Margrit nicht nehmen, den ganzen Kopf direkt darunter zu halten. „Hast Du das Frottiertuch dabei?“ Da dies nicht der Fall ist, wird einfach das automatische Handtuch ein paar Mal bis zum Stopp gezogen und Margrit fühlt sich wie neugeboren. Meine Wanderschuhe werden durch die Turnschuhe ausgetauscht.
 Nochmals gottseidank schleppe ich sie mit! Ohne ihm etwas anzusehen, kommt mein Rucksack auch mit den viel grösseren Schuhen in seinem Bauch zurecht. Von nun an muss ich ihn ja nicht mehr weit tragen. Dies besorgt jetzt der Bus, der uns in Spitzkehren den Steilhang überwindend, hinunterträgt in wieder zivilisiertere Gegenden unseres Landes. Wir geniessen die Durchfahrt durch die wunderschönen, sonnenbeschienenen Walliser Dörfchen mit ihren blumengeschmückten Chalets. Ein bisschen habe ich das Gefühl als komme ich in eine andere Welt.
In Sion winken uns Karl, Monique und Lotti zu und strecken zwei Finger in die Höhe.Bis wir unsere Rucksäcke ausgeladen haben, sind die drei aber wieder entschwunden. Doris probiert als erstes, ihr Billet umzuschreiben. Sie will den Zug über Lausanne nehmen. Inzwischen entdecken wir, dass derjenige über Brig in fünf Minuten fährt und die aufgestreckten Finger Perron 2 hätten heissen sollen. In der Hitze des Gefechts können wir uns nun nicht mal in aller Form von Doris verabschieden, welche nun ganz allein in die andere Richtung weiterreist. Da es Annigna in der Zwischenzeit – vielleicht dank Bergkräutertee – wieder besser geht, haben die beiden vor, noch zwei, drei Tage im Wallis zu bleiben. (Vielleicht rekognoszieren sie für eine nächste Ferienwanderung?)
Den verbleibenden Teil der Gruppe trägt der IC durch den Lötschberg, die restliche Höhendifferenz von heute 2650 Metern überwindend, Basel zu. – Müde – glücklich – stolz auf die erbrachte Leistung (ich jedenfalls).

Von Törbel bis Grande Dixance