Sommerwanderung 2003

Freitag, 25. Juli 2003

Ich werde sicher mehr als eine halbe Stunde zu früh am Bahnhof sein. Aber ich habe mir tapfer vorgenommen, mich heute mal dem Kampf mit einem Billetautomaten zu stellen. Bei früheren Versuchen hat mir ein solcher ganz komische Sachen vorgeschlagen, so dass ich mich lieber wieder in die Schlange am Billetschalter eingereiht hatte. Ich wollte schliesslich meinen Zug erreichen. Dabei habe ich ja sonst eigentlich mit dem Computer keine Berührungsangst… Zu meiner Überraschung sind Knud und Lykke-Lise auch im gleichen Tram. Gestern aus Dänemark eingetroffen und nur schnell den Rucksack gepackt, möchten die beiden, wie auch Margrit und ich, noch eine ruhige Nacht in Klosters geniessen. So könnten wir den ersten Aufstieg dann ohne Hektik in Angriff nehmen, bis jene, die noch arbeiten müssen, dann aus dem Unterland eingetroffen sind.
Obwohl der eine Billetverkäufer schon lange gross und rot „Geschlossen“ angeschrieben hat, wollen noch eine ganze Reihe Leute bedient werden, dieweil an den wenigen andern geöffneten Schaltern die Schlangen lang und länger werden. Mit sanfter Gewalt wird man dazu gezwungen, halt doch endlich mal mit einem Automaten Freundschaft zu schliessen. Oder doch wenigstens seine (Berührungs-)Angst davor zu überwinden. Mein Auserwählter will kein Bargeld, sondern eine Karte. „Bitte Bildschirm berühren!“ … und jetzt? Ja also, er sagt einem ja alles. Klosters Dorf (beim dritten Anlauf schaffe ich die Eingabe, ohne dass er mich erneut auffordert, ihn wieder zu berühren), einfach, halbtax, 2. Klasse und dafür wird jetzt ab meiner Postcard 32.50 abgezogen. Funktioniert ja fast, wie am Postomat das Geld rauslassen. Knud muss sich in der Reihe immer noch gedulden. Er bekommt für sein deponiertes GA noch eine Gutschrift. Inzwischen ist Margrit auch eingetroffen und so reicht es uns noch auf den früheren Zug, mit welchem wir in Landquart ein paar Minuten mehr Umsteigepause haben. Ein puzzliges Geduldspiel, welches Knud aus seinem Rucksack hervorholt, hält unsere ganze Aufmerksamkeit in Bann, so dass wir im Nu schon in Klosters eintreffen. Von einem prächtig geschmückten Geranien-Balkon nahe beim Bahnhof winken uns Hans und Annigna zum Willkommen. Sie haben sich schon heute morgen auf den Weg gemacht und einen sonnigen Prättigauer-Tag genossen.

In Klosters im Hotel

Bis wir uns im Restaurant des Hotels einfinden ist es fast neun geworden und wir bekommen ausnahmsweise sogar noch das Tagesmenü, Rumpsteaks mit Pommes und Salat samt Dessert für 14.50 serviert. In Klosters, wohlverstanden!

Samstag, 26. Juli 2003

Rosa Wölkchen am Himmel und ein leicht erröteter Gotschna (nicht wegen mir) grüsst am Morgen mein schlaftrunkenes Auge. Sollte ausgerechnet heute die Schönwetterperiode zu Ende gehen? Aber beherzt packen wir an, was uns geboten wird. Zuallererst schlemmen wir im äusserst reichhaltigen Frühstücksbüffet. Obwohl es sicher vier verschiedene frische Brotsorten hat, fragt der Kellner nach, ob etwa Gipfeli-Wünsche existieren und diese befriedigt er extra mit einem Gang über die Strasse zum Beck.
Gedopt mit Flocken, Joghurt und zusätzlichem Isostar satteln wir unser Rucksäcke zum ersten Anlauf. Die Madrisabahn wird uns zum Start unserer viertägigen Wanderung auf die Saaser Alp auf 1884m bringen. Weil wir Elf sind, können wir sogar mit einem Kollektivbillet von einer Ermässigung profitieren. Halbtax oder GA vorzuweisen ist hier nämlich verlorene Liebesmüh. Wir schweben schon mal hoch, und bewältigen in aller Ruhe den ersten Aufstieg bis ins Obersäss. Trotzdem sind unsere Hemden bereits schweisstriefend. Ein köstliches Wasser vom Brunnen vor der Alphütte erquickt unsere durstigen Kehlen. Weit unten ist nun auch der Rest der Gruppe zu sehen. Hans hat am Bahnhof auf sie gewartet. Klaus und Marie-Louise, Liselotte, Hansruedi und Vreni, welche nun seit sechs Uhr unterwegs sind. Doch nur Wiggers und Vreni können wir mit Hallo begrüssen. Die andern beiden fehlen. Jemand weiss, dass sie ein Einlauf-Training über die Keschhütte gemacht haben. Hoffentlich ist nichts passiert. Hans konnte, clever wie er ist, die beiden nun überzähligen günstigen Billette an den fremden Wandersmann bringen. Sogar mit Einverständnis des Bahnpersonals.
Noch sind wir am begrüssen und erzählen, da trifft erhitzt und ausser Atem auch Hansruedi noch ein. „Wo ist Liselotte?“ Sie hat sich gestern den Knöchel ein bisschen ramponiert und möchte sich heute etwas schonen. Sie wird uns dann in St. Antönien im Hotel erwarten. Bald stellt sich auch heraus, warum man sich nicht getroffen hat. Die beiden warteten nämlich in Klosters Platz vergeblich auf aussteigende Unterländer. Dank fehlender Busverbindung musste Hansruedi nun auch noch zuerst vom Platz ins Dorf marschieren.

Am Start bei der Bergstation der Madrisabahn

Nun können wir doch vereint die etwas sanftere Strecke hinein ins Chüecalanda unter die Füsse nehmen. Langsam überzieht sich der blaue Himmel mit einer grauen Wolkendecke. Auch das hat sein Gutes: Man hat weniger zu schwitzen.

Im Chüecalanda

Vor dem letzten Stück, einem relativ steilen Aufstieg gibt’s Mittagsrast. Die Maschine muss mit Treibstoff versorgt werden. Für die Einen ist’s ja lang seit dem Frühstück. Man wird dabei genau beobachtet. Ein paar Schritte nach links, und vom nächsten Hang schrillen laute Pfiffe der Wachtposten. Auf der andern Seite im Tälchen neben dem Bach stehen Murmeltiere auf der ausgeworfenen Erde vor ihrem Bau und schnuppern vorsichtig im Wind.

nur noch ein paar Meter….. …..und das Auge staunt


Fast wie bestellt und geplant: Nach der Anstrengung der letzten Kletterpartie vor dem Rätschenjoch kommt jetzt auch die Sonne wieder hinter den Wolken hervor und lässt den Kalkstein der Gafier Platte noch heller leuchten. Was für ein faszinierender Anblick, wenn man das Joch erreicht. Fast muss man zweimal hinschauen um sicher zu sein, dass man nicht vor einem ausgebreiteten Gletscher steht, so weiss scheinen die Felsen. Ich freue mich, auch unseren dänischen Freunden ein solch wunderbares Schauspiel bieten zu können. Natürlich gehört auch ein herzhafter Gipfelkuss dazu und nicht nur meine neue poschettentäschliformatige superleichte und flache Digitalkamera, welche ich mir extra für Wanderungen erstanden habe läuft heiss.

Knud, Rita, Hans, Margrit, Vreni und Hans

Die Jochs haben es so in sich. Der Aufstieg geht am Schluss manchmal steil hinauf wie auf Messers Schneide. Auf der andern Seite genauso steil oder noch steiler wieder hinunter, wie hier. Zum Glück sind es nur etwa 40 Meter, dann folgt der Pfad dem Rand des „Gletschers“ entlang auf normalem braunem Gestein. Wundersamerweise finden tausende von weissen Margriten und gelbem Gemswurz irgendwo zwischen den Steinen genügend Erdreich, dass man das Gefühl hat, durch regelrechte Blumenwiesen zu schreiten.

Glockenblumen, Schafgarbe und Alpensäuerling Gemswurz und Wucherblume

Dann haben wir die weissen Felsplatten umrundet und unter uns öffnet sich das Gafiental. Im Unghürtschuggen müssen wir aber noch eine Felsbarriere überwinden. Von oben kann man sich nicht vorstellen, wo hier ein Pfad durchführen soll. Ist man dann eingestiegen, ist es nur halb so schlimm. Allerdings beim Blick zurück muss ich immer wieder staunen, dass man mit seinen kurzen Beinen solche Hindernisse meistern kann.

Im Unghürtschuggen

Diese aber lassen einem die Leistung schon etwas spüren. Zittrig und klapprig kommen sie mit mir im Sunnistafel an, wo eine rote Schweizerfahne einen kühlen Drink im Restauräntchen verheisst.
Obwohl in St.Antönien angekommen, sind wir noch lange nicht am Ziel. Unser Lager ist im Berghaus Alpenrösli, nochmals etwa 2 Stunden von hier. Hier sind wir auf 1700m. Zum Büel geht’s noch auf 1461m hinunter, um dann bis zum Berghaus fast beim Partnunersee oben wieder auf 1801m anzu­steigen. Margrit kann ihren Blick nicht abwenden von einem Anschlag, welcher über meinem Kopf an der Hauswand des Restaurant Edelweiss klebt. „Alpenrösli-Taxi, R.Streit, Tel. 076 578 00 72“ ver­spricht eine bequemere Art ans Ziel zu kommen. In Anbe­tracht solcher Möglichkeiten haben auch meine Beine plötz­lich das Gefühl, sie schaffen keinen Schritt mehr weiter.

Sunnistafel mit Drusen- und Sulzfluh

Der Deal ist schnell gemacht. Wenn wir kreuzweise beigen, haben sogar die Rucksäcke noch Platz, habe Herr Streit ge­sagt. Er werde uns holen. Also bezahlen wir unsere Milch und schauen noch ein bisschen den beiden Kindern zu, welche voller Konzentration in ihr Köcherli-Spiel vertieft sind.
Jemand muss in dem Kleinbus noch hinten einsteigen. Also opfere ich mich für diesen Logenplatz und probiere möglichst nur ein Fliegengewicht auf dem Berg von Rucksäcken zu platzieren. In abenteuerlicher Fahrt holpern wir über die staubige Naturstrasse hoch über dem Gafier Bach dahin. Hier ist der grosse, runde Schlangenstein immer noch an seinem Platz, wie ich ihn von vor fast 45 Jahren in Erinnerung habe. Es war auch in der Woche vom 1. August, als ich mich hier in St.Antönien zum ersten mal verliebt hatte. – Nur hat es der Angebetete nicht gemerkt.

der Schlangenstein ist immer noch an seinem Platz

Plötzlich muss der Chauffeur bremsen. Wir stehen frontal vor einem schnittigen Cabrio mit Zürcher Nummer. Vorwurfsvoll und fordernd schaut sein Fahrer zu uns herauf. Talfahrer haben zurückzuweichen. Obwohl Herr Streit keinen Streit will, gibt er doch deutlich zu verstehen, dass er nicht daran denkt mit dem vollen Auto zurückzusetzen. Also steigt mal die hübsche Beifahrerin aus und ihr älterer Kavalier (jemand munkelt: Das ist sicher nicht seine Frau) legt den Rückwärtsgang ein. Man sieht ihm die Angst förmlich an. Ein schnittiges Auto hat er zwar, aber fahren kann er nicht. Das Auto macht, was es will. Unser Fahrer, Knud und Klaus steigen aus und probieren mit Stossen und Stemmen wenigstens die Karosserie von dem Felsen am Strassenrand fernzuhalten, dieweil die Räder heulend und Steine spuckend auf dem kiesigen Weg spulen und hin und her gleiten. Endlich hat er die paar Meter um die nächste Kurve geschafft und unter Anleitung unserer Männer seine Karosse in eine Ausbuchtung manövriert. Beissender Gestank von Gummi und einer heissen Kupplung steigt uns beim Vorbeifahren in die Nase. Ach wie kann man doch schadenfreudig sein!
Liselotte hat sich heute einen gemütlichen Tag am Partnunersee gemacht und hat die Sonne ausgekostet. Gleichzeitig mit uns trifft sie im Berghaus ein. In einem sind wir uns alle einig: Ohne Taxi hätten wir heute beim Znacht ganz bestimmt gefehlt! Zuallererst sind mal die Schuhe im Keller zu deponieren. Wasser sei nicht gerade im Überfluss vorhanden, also verzichte ich auf eine Volldusche und wasche mich einfach kalt ab. Dafür darf mein verschwitztes Hemd ein Bad nehmen und nachher hinter dem Haus an meiner Patent-Wäscheleine trocknen. Dann noch das Lager schlupfbereit gemacht und schon ist Zeit zum Essen. Die Küchendüfte haben einem schon durchs ganze Haus gelockt und den Mund wässrig gemacht. Es gibt eine feine Rüeblisuppe, Rüebligemüse und Geschnetzeltes mit Teigwaren. Verliebt war der Koch jedenfalls nicht. Das Salz an den Teigwaren hat er ganz vergessen.
Obwohl ich meine Hornochsen mitgenommen habe, zeigt niemand Lust für ein Spiel. Selbst die Tatsache, dass im Nachbarhof eine Volkstanzgruppe tanzt, findet bei niemandem Interesse. Das ist wohl ganz eindeutig ein Müdigkeitsbarometer.

Sonntag, 27. Juli 2003

Ein neuer, schöner Tag kündet sich an. Goldene Sonnenstrahlen beleuchten Sulz- und Gämpiflue. Noch bzarrer und geheimnisvoller wirken in diesem Licht die Gesteinsformationen. Von hier aus erscheinen dort drüben am Fuss einer Felswand zwei Steinsäulen wie ein um die Ecke kommendes Wanderpaar.
Auf den Tischen vor dem Haus werden im Rucksack noch die Finken verstaut und die Wanderschuhe an den Füssen festgezurrt. Noch ein Foto von der Gegend und den Leuten…. Der berühmte Schritt zurück, um alles aufs Bild zu bekommen – und Marie-Louise sitzt im Blumentrog!
Und schon geht’s wieder bergan. Ich bin immer froh, wenn der Aufstieg am Anfang ist. (Dann hat man’s hinter sich!) Zum ersten Stundenhalt haben wir auch die erste Höhe erreicht. Am Fusse der Sulzfluh. Noch heute bin ich ganz ehrfürchtig und auch stolz, dass ich schon mal dort oben war! Damals, mit sechzehn!

über Ascharina / St. Antönien

Hans hat eine Geschichte mitgenommen. Das schöne Ritual wie früher. Beim ersten Stundenhalt eine Geschichte, über die man vielleicht, wenn man will unterwegs etwas nachdenken kann. Oder auch nicht. Ausserdem ist ja heute Sonntag. Eine Anregung, sich einmal hinzusetzen und etwa hundert Menschen aufzuschreiben, welche uns auf unserem Lebensweg begegnet sind und die den Verlauf dieses Weges irgendwie beeinflusst haben.
Ich glaube Hans würde bei mir schon bei den 100 bleiben. Er war ja nicht nur neun Jahre mein Chef, bei ihm habe ich auch später eine neue Leidenschaft entdeckt: Auf Wanderungen draussen in der Natur sich eins zu fühlen mit Gott und der Welt.
Brunnenegg heisst es hier. Wahrscheinlich weil viel Wasser aus dem Boden hervorquillt. Es ist leicht sumpfig und das Wollgras fühlt sich da ausgesprochen wohl. Das muss natürlich fotografisch festgehalten werden.

Wollgras überall

Langsam weicht die Sulzfluh an unserer Seite aus dem Blickfeld. Dafür ersteht vor uns ein neuer mächtiger, viereckiger Klotz auch aus recht hellem Kalkstein. Wie heisst der wohl? Hans hat seine Karte immer in Reichweite. Drei Türm! Komisch. Je länger ich den Berg anschaue, je mehr kommt langsam irgendwo aus dem Vergessen ein Name an die Oberfläche. Drusenfluh, natürlich! Das muss doch die Drusenfluh sein. Nicht nur auf meiner, auch auf der 25’000er von Hans steht der Name. Halt ein bisschen gross und gesperrt, dass man’s auf den ersten Blick nicht mal sieht.

Carschinahütte im Schutz der Sulzfluh

Bald nimmt mich der Blick hinauf zu den bizarren Zacken und Felsformationen der Drusenfluh gefangen. In meiner Fantasie sehe ich dort oben wieder allerlei Gestalten und lustige Formen. Dort sitzt doch ein behäbiger Lehrer mit einem Buch auf dem Schoss und vor ihm knien andächtige Zuhörer. Oder dort sitzt ein nachdenklicher Zwerg mit einer Zipfelmütze, das Kinn in die Hände gestützt! Da fehlt nur noch das Edelweiss am Hut, das muss dorthin!

Abschiedsgesang für Vreni auf der Carschinafurgga die fantastischsten Gebilde im Fels

Bei diesen Betrachtungen spüre ich kaum die merkliche Zunahme der Steigung. Ein leichter Wind begleitet uns hinauf zum Joch. Je näher wir uns jedoch dem bizarren und zerklüfteten Sattel des Drusentors nähern, je stärker bläst dieser Begleiter. Von unten holt eine Gruppe Jugendlicher auf. Leichtfüssig und auch wie der Wind werde ich überholt. Der Übergang ist eine ziemliche Stein- und Felswüste. Der Wind bläst ganz ordentlich, aber trotzdem geniesst man zuallererst den neuen Ausblick ins Montafon und ein letztes Mal zurück Richtung Prättigau. Fast ein feierlicher Augenblick. Sicher auch für Knud und Lykke-Lise. Für sie eine neue Erfahrung.

Hans und Lykke-Lise im Felsenlabyrinth

Die Carschinafurgga. Wieder ein Scheidepunkt. Vreni nimmt Abschied von der Gruppe. Ihre Arbeit ruft für morgen. Dabei wollte ich ihr morgen zum Geburtstag gratulieren. Oder ist er doch heute? Jedenfalls trägt der Wind plötzlich das Zauberwort daher, auf welches man einfach singen muss. Happy birthday to you… dann einen Kanon der viel Glück und viel Segen auf Vrenis Wege wünscht. LaLiBus kommen zum Vorschein und die Sonne erstrahlt und die Vögel pfeifen und sogar alle Brünnlein beginnen zu fliessen. So ein richtig feierlicher Abschied. Es war so schön, dass auch Du wieder mit von der Partie warst!
Während sich Vreni allein auf den gut zweistündigen Weg Richtung St.Antönien macht, führt unser Pfad in entgegengesetzter Richtung zum Übergang nach Österreich, dem Drusentor. In einer kleinen Mulde träumen Tausende von Glockenblümchen vor sich hin. Ein sanfter Windhauch streicht durch die violett-blaue Pracht. Ich muss stehen bleiben und horchen, denn es dünkt mich, dass man ihr tausendstimmiges feines Läuten doch hören müsste.

Mittagsrast hinter den Flühen

Noch summt das Gefühl der Eroberung und des geschaffthabens in mir, geht’s schon wieder weiter. Die Kehrseite hinunter. Eine Geröll- und Schutthalde wo man aufpassen muss, wohin man tritt und die einem die Knie spüren machen lässt. Zur Mittagsrast suchen wir uns dafür bald eine Mulde, wo sich jeder ein gemütliches Plätzchen aussuchen kann, wo kein Gratwind mehr bläst, wo man sich aber immer noch wohl im Angesicht der mächtigen und drohenden Felsentürme von der eben durchgemachten Anstrengung wieder etwas erholen kann. Ein Nickerchen im Sonnenschein, aber der Tanz von vielen hundert Schmetterlingen welche über die blühenden Disteln gaukeln, sind kein Traum.

Distelfalter auf Cirsium spinosissimum

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle den Namen der Distel bestimmen. (Alpen-Kratzdistel, Cirsium spinosissimum SCOP [heisst wohl: Total gesponnen] !!!) dabei fand ich ausserdem heraus, dass es sich hier um Distelfalter handelt, welche in der Regel erst im Juni aus dem Mittelmeergebiet zu uns kommen. Nach ihrer Ankunft legen diese ihre Eier einzeln an Disteln oder Nesseln ab. Die daraus schlüpfenden Raupen leben dann zwischen zusammengesponne­nen Blättern der Wirtspflanze. Die im Spätsommer aus den Puppen schlüpfenden Falter wandern im Herbst zum Teil wieder südwärts; die bei uns Zurückbleibenden überstehen den Winter gewöhnlich nicht. So hat mein Tagebuchschreiben also noch andere positive Nebengeräusche. Zuerst mal möchte ich die Erinnerungen an die wunderbaren Erlebnisse festhalten. (Nicht loslassen) Zweitens kann ich diese daheim erzählen. (In mei­nem Fall halt dem Compi) Drittens habe ich in der Zwischenzeit eine Methode herausgefunden, meine Fotos zu ordnen. (Jedenfalls die wichtigsten. Es werden auf jeder Reise mehr, dank immer grösseren Kapazitäten der Speicherchips) Viertens kann ich damit meinen Kameraden eine Freude machen. (Ich hoffe es wenigs­tens, denn sie müssen meine Ergüsse ungefragt über sich ergehen lassen) Und fünftens lerne ich beim Nach­schlagen von Orten oder Namen eben auch mal was dazu. (Oh Wunder!)
Nach der nächsten Kuppe sieht man unten im Tal, schon in den Tannen halb versteckt die Lindauerhütte liegen. Zuerst steht uns aber noch ein ziemlich gerölliger Abstieg bevor, ehe uns die Talsohle mit seinem nach warmem Harz duftenden, mit Heidelbeeren gespickten Föhrenwäldchen empfängt.

Die im Jahre 1899 erbaute Lindauerhütte des Österreichischen Alpenvereins scheint gut besucht zu sein. Noch herrscht in der Nachmittagssonne ein reger Betrieb in der Gartenwirtschaft.
Ich möchte zuerst mal aus meinen Schuhen. Das möchte auch der Hüttenwart. Wie durch eine Schleuse wird man zuerst im Schuhraum empfangen. Dort will er von jedem seinen Vornamen wissen und dafür erhält man einen persönlichen Zettel. Darauf lässt man sich nun alle Konsumationen eintragen und ehe man ins Bett geht, wird dann die Rechnung beglichen. Das Frühstück wird dann nochmals separat je nach Reichhaltigkeit der persönlichen Zusammenstellung des Menüs bezahlt.
Lykke-Lise, Knud, Margrit und ich richten uns in einem Schlag mit zwei Kajütenbetten ein. Knud hat was dabei für die müden Beine: Einen Gammel Dansk. Ganz ehrfürchtig, dass er so was schon seit Freitag im Rucksack mitträgt, wird im engen Zimmer auf unser Wohl ange­stossen.

ein Hoch dem Gammel Dansk

Vergeblich wird nach einer Dusche Ausschau gehalten, erfrischendes Wasser gibt’s auch im Waschraum und zwar für mich, sowie für Hemd und Unterhosen.
Vor dem Haus kann man sich in einem grossen Alpengarten verweilen und von vielen Kräutlein und Blümchen, welche man unterwegs getroffen hat die Namen herausfinden. Eigentlich wäre auch die Cirsium spinosissimum dabei, wenn ich mir’s bloss merken könnte! Ein bisschen weiter hinten im Tal liegt eine Sennhütte, wo viele Schweine gehalten werden. Jemand hat bei einem Spaziergang den Senn getroffen und von ihm die Wettervorhersage für morgen heimgebracht: Den ganzen Tag Regen! – Wenn der nun recht hat? Der Himmel hat sich nämlich seit unsere Ankunft hier bedeckt, wenn nicht gar verdüstert. Aber morgen ist morgen und jetzt haben wir erst mal Hunger und streben ins Haus. Margrit ist eben dran, zusammen mit dem Hüttenwart einen Tisch von der Gartenwirtschaft ins Haus zu tragen. Im Esssaal waren schon sämtliche Plätze belegt. Im Vorraum werden nun ein paar Halma-Spieler ein bisschen zusammengedrängt, und ich helfe nun unseren Gartentisch für wenigstens acht von uns zu verteidigen. Eine ganze Gruppe muss sogar draussen im Freien mit einem Platz vorlieb nehmen. Ich entscheide mich für Spaghettis mit Gorgonzola. Zum Glück ist die Käsesauce wenigstens rezent, denn die Teigwaren haben auch heute wiederum kein Salz. Dafür bestelle ich mir zum Nachtisch ein Germknödel. Natürlich mache ich damit alle gwundrig und gluschtig, denn die wenigsten kennen das und mein Teller geht erst mal auf eine Runde aus und ich profitiere von diversen andern Desserts.
Inzwischen hat es draussen zu regnen begonnen und die ausgesperrte Gruppe kommt nun auch noch mit dem Teller in der Hand ans Trockene. Noch mehr zusammenrutschen, damit nochmals ein Tisch und Bänke von draussen Platz haben. Der Lärmpegel im Raum schwillt entsprechend an. Nichts mit einem gemütlichen Hüttenabend. Da ziehe ich die Heia schon vor, auch wenn es noch gar nicht mal dunkel ist.

Noch sieht man den Weg durchs Öfatobel zum Öfapass

Montag, 28. Juli

Ganz so arg sieht das Wetter heute nicht aus. Wohl hängen noch überall Nebel und Wolkengebilde, aber die Sonne grüsst uns doch zum Abmarsch. In der Nacht ist ein gewaltiges Gewitter losgebrochen. Gewaltig hat jedenfalls der Donner gehallt zwischen all den hohen Felswänden ringsum. Nun sind wir dran, in den Wolken zu verschwinden. Schon bald gespenstisch sieht es aus wenn man zurückschaut und sich langsam ein Kamerad nach dem andern zu materialisieren scheint, dieweil sich die vorderen bereits wieder in Nichts auflösen. Das Ziel ist aus den Augen verschwunden, es geht einfach bergauf. Plötzlich erschallt von oben ein herzhafter Bergjodel. Silhouettenhaft beginnt sich der Jodler auf einem Felsen stehend abzuzeichnen. Hans hat die Passhöhe erreicht!

der Jodel auf dem Öfapass

Der Nebel wird immer nässer, sodass man nun doch besser die Jacke oder Pelerine überzieht. Hat der Saubauer nun doch recht gehabt? Ich lasse mich jedenfalls nicht stören. Trotz Nässe finde ich überall noch fotogene Sujets, welche ich festhalten möchte. Eisenhut und Kratzdistel können mich trotz Nieselregen ins nasse Gras locken und im Zollhäuschen kurz vor dem Schweizertor wird eh kein Kaffee angeboten. Komplett ausser Atem begegnet uns ein Wanderer, der eben das Schweizertor passiert hat. Die nächsten Schritte zeigen uns warum er nur noch japst.

am Schweizertor

Uns steht eine kitzlige Passage bevor. Nasse Felsen und nasses Gras und dann noch Klettern über in den Fels eingelassene Armierungseisen. Aber alles geht gut und es regnet auch schon nicht mehr. Dafür führt uns der Weg hoch über einem Felsband einem Abgrund entlang. Sorglos folge ich Marie-Louise auf dem äusseren Trampelpfad, weil es scheints hier besser gehe, als über die hohen Felstritte. Pass auf!! Ich fange einen entsetzten Blick von Hans auf. Ich sei auf Gras gestanden. Sollte man nicht! Besonders bei Nässe ist das sehr gefährlich. Und dann noch so am Abgrund!

Der Pfad ist gut sichtbar und auch klar markiert. Doch zweigt an einer Stelle ein kleines Geissenweglein ab und scheint talwärts zu führen. Ein frisch gestrichenes weiss-rot-weisses Zeichen sollte aber alle Zweifel be­seitigen. Zuerst geht’s noch etwas weiter bergauf. Irgendwie muss man hier nämlich eine hohe Klippe „um­schiffen“. Vom Abgrund herauf wälzen sich Nebelschwaden und vielleicht ist es gnädig von ihnen, dass einem nicht schwindlig wird beim hinuntersehen. Für einen kurzen Moment lässt sich durch einen Riss im Vorhang auf der gegenüberliegenden Seite der Weg erkennen, welcher am Fusse der hohen Felswände, die zu den Kirchlispitzen gehören, entlangführt. Sind wir hier wirklich auf dem richtigen Weg? Hans hat plötzlich ein komi­sches Gefühl. Er lässt uns mal eine kleine Runde rasten und will vorausgehen, denn seiner Meinung nach sollte demnächst eine Abzweigung kommen, von welcher wir einfach eine Stufe oder Felswand weiter  unter­halb des Schweizertors zum Quell des Älplibachs kommen. Erfolglos kehrt er zurück. Es ist auch wirklich un­angenehm bei diesem Nebel. Man kann sich so an nichts orientieren. Hansruedi hat doch so ein neues Gerät gespienzelt, mit welchem man per Satelliten die genaue Position in Höhe, Länge und Breite bestimmen kann. Doch ausgerechnet jetzt, wo dieses zeigen sollte, was es kann, läuft einfach nichts. Während man auf ein Signal aus dem Weltall wartet und wartet, pro­biere ich mein Glück aus, ein wunderschönes Spin­nennetz zu fotografieren, welches zwischen den Steinen gesponnen, voll von tausend Tau- oder Re­gentröpfchen sich vom dunklen Hintergrund so gut abhebt, dass es hoffentlich auch mein Objektiv sieht.

mein Objektiv hat es gesehen! Schweizertor und die Felswand, welche wir „umschiffen“ mussten

Die Technik hat es so in sich. Es ist wie beim Handy, wenn man es braucht, ist der Akku leer. Mit einer neuen Batterie ist es nun ein Kinderspiel und jetzt zeigt das GPS mittels mindestens drei Satelliten unsere Position auf Zentimeter genau an. Also weiter vorwärts und schon nach wenigen Schritten sieht man durch ein Nebelloch Leute auf dem untern Weg heraufsteigen und die Abzweigung, wo sich unser Weg von jenem nach der Carschinahütte trennt, ist nicht zu verfehlen.

da geht’s hinunter !

Der Nebel verzieht sich nun in die Höhe und bei einer Rast sieht man staunend den zurückgelegten Weg. Hoch über der Fluh auf einem schmalen Grasband den etwa einen Kilometer langen Zick bis zur Abzweigung und unterhalb der Felswand den Zack wieder zurück.
Laut Höhenprofil von Hansruedi gibt es heute nur einen Aufstieg, welchen wir wohl beim Öfapass  überschritten haben und dann geht es alles mehr oder weniger der Höhenlinie entlang langsam nur noch leicht abwärts bis zur Schesaplanahütte. Doch frisch gestärkt und gesattelt erklimmen wir vorerst eine Weide, von wo uns aus luftiger Höhe das Vieh muhend zum Aufstieg anspornt. Auf der Krete angekommen stehen auf einem weiteren Grat noch höher noch mehr Rinder, welche unsern ganzen steilen Pfad munter bekleckert haben. Bei mir schaltet sich das Dampfwalzengetriebe wieder ein und Hans hat mit uns Erbarmen. Auf der Höhenkurve 2200 deponiert er seinen Rucksack, kehrt zurück und schultert Margrits Säumerlast hinauf zum Kamm. Von hier an scheint das Höhenprofil wieder zu stimmen. Der Compi  hat wohl einfach die kliztekleine Differenz von der Älplibachquelle auf 1900m bis kurz vor dem Cavelljoch auf etwa 2200m ignoriert. Er hat einfach eine Brücke gespannt vom Schweizertor bis hierher, oder aber er hat den Weg hinter den Kirchlispitzen übers Verajoch berechnet. Vielleicht hat auch die Führung wegen dem Wetter eine andere Route gewählt. Das habe ich nicht mitbekommen.
Wie man sich doch auf so eine blöde Zeichnung einstellt und die Puste meint, sie möge nicht mehr mit, nur weil es nicht auf dem Papier eingeplant ist! Auf jeden Fall ist jetzt eine Rast fällig, auch wenn’s zum sitzen überall nass ist und man sich in einer düsteren, dampfenden Waschküche wähnt. Ab und zu hebt sich der Saum des Vorhangs ein winziges bisschen und man erahnt zu seiner Rechten bizarre Felsbrocken und Steilwände. Fast unheimlich ragen aus dem Nebel zackige Gebilde zu unserem Rastplatz herunter. Als ob wir uns in der Nähe eines riesigen Drachens niedergelassen hätten, welcher uns jederzeit mit seinem mit spitzigen Zacken besetzten Schwanz von hier herunterfegen könnte.
Die Karte erzählt uns, dass wir uns jetzt beim Cavelljoch und etwa in der Hälfte des Weges zwischen Schweizertor und Schesaplanahütte befinden und der Wegweiser will wissen, dass es noch anderthalb Stunden geht bis wir dort sind.

Hans, Annigna, Lykke-Lise, Klaus, Hansruedi, Marie-Louise, Margrit, Lieselotte, Knud

Aber es geht nun wirklich sanft mehr oder weniger der Höhenkurve nach geradeaus. Manchmal ist der Weg noch kribbelig schmal und schräg gegen das Tal abfallend, dann geht’s über Alpweiden, durch sumpfiges Gelände wo wieder viel Wollgras wächst und vorbei an schroffen Felswänden. Der Nebel ist oben im Joch geblieben und unten im Tal kann man das Schauspiel verfolgen, wie die Kühe der Sennhütte zustreben um gemolken zu werden. Eine hat sich beim Fressen wohl vergessen und ist nun eifrig bemüht, die andern noch einzuholen. Es geht ihr wohl fast wie mir, wenn ich mit meinem Fotoapparat auf Abwege gelange und mich dann sputen muss, den Anschluss nicht zu verpassen.
Der Weg zieht sich dahin. Liselotte ist sonst immer gut zu Fuss. Aber heute wollen ihre Beine einfach nicht so wie immer. Ihre Getränkeflasche ist schon leer und noch immer ist keine Hütte in Sicht. Nach Marschplan sollte es aber innerhalb der nächsten halben Stunde soweit sein. Die meisten möchten eigentlich jetzt nicht nochmals absitzen. Auch ich scheue mich dann jeweils mehr vor dem wieder aufstehen. Doch wäre es besser, wenn die ganze Gruppe zusammen in der Hütte eintrifft. „Wir warten einfach in der Nähe“ den Rest schafft man dann schon noch. Liselotte stärkt sich noch ein letztes mal mit einem Schluck aus meiner Teeflasche. (Ich habe heute wieder zuwenig getrunken) und Hansruedi buckelt ihren Rucksack auch noch über dem Seinen.

Einer trage des Andern Last

Nebelschwaden wogen den Hang hinauf und wieder herunter. Für einen kurzen Moment kann man eine weitere Wegstrecke ausmachen und dort – weit vorn ist sie, die Schesaplanahütte!! Zuerst müssen wir aber noch zwei grosse Schuttrinnen überqueren, welche von riesigen Murgängen herrühren. Der eine hat möglicherweise sogar erst letzte Nacht stattgefunden. Eine hässliche Narbe von Stein und Kies hat die Gewalt von entfes-
seltem Wasser durch friedliche Weidhänge gefressen und unten auf dem Bödeli die Alp zur Hälfte zugeschüttet.


In Deckung von einem grossen Stein warten die vorderen auf die Nachhut. Auf den letzten hundert Metern versucht man am Gras die überflüssigen Kilos, welche sich zum Schluss noch an die Schuhe kleben mussten, loszuwerden. Neben dem bestellten, ist noch ein weiteres Doppelzimmer feil, welches natürlich nicht verschmäht wird. Knud und Lykke-Lise und Klaus und Marie-Louise bleiben im Haus und wir andern sechs bekommen ein 8er-Lager im Nebengebäude. Ein neu ausgebauter Raum eingerichtet mit alten quietschenden Doppelstockbetten. Auch hier erhalten wir wie gestern, jedes einen eigenen Konsumationszettel, jeder lautet auf den Namen Kohler. Die gute Idee scheint Schule zu machen. Nur um in aller Ruhe vor dem Nachtessen zu einem Aperitif oder was ähnlichem zu kommen scheint fast unmöglich. Die Tische und Bänke vor dem Haus sind alle nass und in der Stube kann ich mir mit Doris die letzten zwei freien Stühle ergattern um zwei deutschen Frauen bei einem Swiss-Quiz zuzuschauen. Wieder wie gestern. Wo soll da noch unsere zehnköpfige Gruppe Platz haben zum Essen? Ein Gartentisch hat hier jedenfalls keinen Platz mehr. Gibt’s Schichtbetrieb? Nein, für uns, zwei Deutsche und drei Handwerker, welche für eine Arbeit an der Hütte engagiert sind, wurde der Privat-Raum der Wirtsleute zurechtgerückt und mit zusätzlichen Tischen bestückt. Und schon wird das Essen aufgefahren: es gibt Spaghetti – diesmal mit Salz.

Nachdem sich Margrit noch um eine kürzere Heimweg-Variante für morgen informiert hat, schleichen auch wir uns in den Nachbarschuppen und probieren vergeblich geräuschlos unter die Decke zu kriechen.

ein verschleierter Morgen

Dienstag, 29. Juli

Der Morgen bietet wieder ein besonderes Schauspiel. Durch das kleine Guckfensterchen unseres Schlages sehe ich als Erstes vom neuen Tag einige rosa Wölk­chen am Morgenhimmel. Bis wir uns aus den Federn, Verzeihung vom Quietschgestell erhoben haben, haben sich auch die Wölkchen vermehrt und zwi­schen Hügel und Tannen im Tal, wälzen sich weisse Schleier, ballen sich zu einer Walze zusammen und rollen den Berg hinan.

Morgenstund vor der Schesaplanahütte

Für vier von uns heisst’s heute Mor­gen schon Abschied neh­men. Sie müs­sen heute Abend ih­ren Tanz nochmals üben, damit’s am 1. August bei der Vorführung klappt. Sie können doch ihre Leiterin nicht hängen lassen. Aber auch ihr Abstieg nach Seewis wird gute vier Stunden dauern. Für die restli­chen Sechs probiert Hans per Te­le­fon im Älpli auf fünf Uhr das Bähnli zu reservieren. Die Bestätigung sollte uns dann per Handy erreichen. Gespenstisch verschwinden Lykke-Lise, Knud, Marie-Louise und Margrit um viertel nach acht im Nebel talwärts und wir haben eine Viertel­stunde später schon wie­der den Son­nenschein gepachtet. Er begleitet uns einem Fahrsträsschen nach, leuchtet durch lichte Tan­nen­wäldchen und bringt uns bei einem Aufstieg durch sumpfiges Gras zum Schwitzen. In immer weitere Ferne rückt die Hütte, welche uns heute Nacht beherbergt hat.
Jetzt kann man sogar die zerklüfteten Felsen erkennen, zu deren Füssen die Hütte gebaut wurde. Hansruedi versucht, mittels GPS den Standort zu bestimmen. Wir sind im Bereich von „nur“ 2 Satelliten und die Genauigkeit ist dementsprechend auch „nur“ plus/minus 35 Meter!

Ausblick auf die Fläscher Alp bis zum Kamm

Dann ist wieder ein kleiner Grat erklommen und wir sehen in eine neue Welt. Eingebettet in einer leichten Mulde liegt die Fläscher Alp. Stellenweise sieht man den Weg, der heute noch auf uns wartet. Die Alp Ijes liegt noch versteckt hinter dem Steilhang, den wir nun zuerst queren müssen. Der Weg ist nicht immer gut unterhalten und fällt teilweise auch schräg zum Abhang ab. Also bitte nicht auf Gras stehen! Das Tobel ist geröllig und tief. Da haben die Gämsen schon weniger Respekt. Wir haben wohl eine solche aufgescheucht und in wilden Sätzen über Stock und Stein versucht sie sich erschrocken vor uns in Sicherheit zu bringen. Dass sich diese Tiere nicht sämtliche Knochen brechen! Dabei müssen sie sogar auf vier Beine aufpassen.
Im goldenen Sonnenlicht schauen uns auch heute wiederum eine Herde Kühe von oben zu, wie wir uns im aufsteigen üben. Skeptisch mustern sie uns mit ihren runden Augen, weil wir uns getrauen, uns auf ihr Morgenessen zu setzen. Weil die Sonne so schön scheint und mich meine vor Schlamm starrenden Hosenbeine nerven, montiere ich diese kurzerhand ab. Bei solchem Wetter wagte ich gestern nicht, diese zu waschen. Vielleicht haben nun meine schneeweissen Beine heute mal die Möglichkeit, etwas Farbe zu bekommen. Dem Dreck an den abgezippten Hosenbeinen mache ich jedenfalls im nächsten Brunnen den Garaus. Munter flattern sie nun hinten an meinem Rucksack und haben Zeit, im Wind zu trocknen.

Das Abenteuer Tunnel ist überstanden

Bei der nächsten Wegbiegung kann man jetzt den vorhin verdeckten Teil des Weges überblicken. Vor uns tut sich die Arena der Alp Ijes auf. Dort drüben verschwindet der Weg sogar in einem Tunnel, damit man eine steile Felswand umgehen kann. Beim Senn versuchen wir vergeblich, ein Glas Milch zu erhalten; er hat heute Morgen zuwenig beiseite gestellt.
Lust, um ausgedehnte Mittagsrast zu halten kommt nicht so recht auf. Es haben sich in der Zwischenzeit wieder so graue Wolken am Himmel zusammengezogen. Schauen wir also zu, dass wir trocken zum Älpli kommen. Ein Anruf vom Bähnliwart ist natürlich auch nicht gekommen. Vielleicht waren wir bei einem Versuch ja eben gerade in einem von Handy-Wellen nicht erreichbaren Loch. (Da wo auch nur zwei Satelliten waren) oder vielleicht sogar im dunkeln Tunnel zwischen dem Senn von Ijes und der Fläscher Alp. Liselotte macht „im Bad“ nochmals einen Versuch, zu einem Glas Milch zu kommen. Diesmal hat sie Erfolg und der Senn will dafür nicht mal Geld nehmen.
Ein letztes Mal kommen wir auf dem Kamm zu einem Scheidepunkt. Da, wo man zurückblicken kann auf den zurückgelegten Weg von heute und von gestern. Möglicherweise könnte man dort hinten im Vals sogar die Lüneregg ausmachen, welche wir gestern kurz nach dem Cavelljoch umrundet haben. Die andere Seite öffnet uns das Rheintal Richtung Chur. Der Calanda mit einem Wolkenkrönchen, den wir im Mai kennen gelernt haben, als wir auf seiner Hinterseite von Bad Ragaz aus über den Kunkelspass kraxelten. Entzückend anzusehen ist aber die Alpweide vor uns, ein sanft ansteigender Bergrücken, auf welchem sich Hunderte von Kühen und Rindern tummeln. 

Blick ins Rheintal, Calanda und Alpweide

Nehmen wir also den letzten Abschnitt noch unter die Füsse. Der Weg ist nicht mehr beschwerlich und kurz vor vier Uhr hören wir hinter der nächsten Wegbiegung das Geräusch der laufenden Motoren der Älplibahn. Wenn wir jetzt noch eine Stunde warten müssen, bis wir mit der Bahn drankommen, kann man’s sich in der Gartenwirtschaft wohl gehen lassen. Zuallererst wird mal mein Rucksack umgepackt. Alles muss sich dünn machen, damit zuunterst meine Wanderschuhe Platz finden, den Rest des Weges schaffe ich mit meinen Sandalen. Hans hat inzwischen abgeklärt, ob überhaupt unsere Anmeldung durchgekommen ist. Wir wären für fünf Uhr vorgesehen, da aber eine Gruppe nicht eingetroffen ist, könnten wir an ihrer Stelle fahren.

Die Gondelbahn vom Älpli nach Malans

Es sind nur zwei winzige Gondeln, welche aufs Mal nur gerade acht Personen schafft. Sechs von uns können also gerade das nächste Mal mit. Also schnell wieder alles in den Rucksack gestopft. Liselotte und Hansruedi teilen sich die gerade servierte Bündner Gerstensuppe in ihre Picknick-Trinkbecher und schon entschweben wir dem Älpli über Tannzapfen­behangene Baumwipfel hinweg dem Tal entgegen. Ein bisschen Wehmut ums Herz, denn schon gehen die schönen und erlebnisreichen Tage zusammen mit guten Freunden wieder ihrem Ende entgegen. Doch kleine Spotlights sind in meiner Kamera hängen geblieben und wenn ich zuhause bin, will ich versuchen, damit den Tagen in meiner Erinnerungskiste einen besondern Platz einzuräumen.

unsere 5-Tages-Tour
warum sie früher heim mussten…. Knud mit Margrit
Lykke-Lise und Ruedi Margrit